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Kultur: Verwirrung der Gefühle

Tausendundeine Nacht: Der bengalische Autor Buddhadeva Bose erstmals auf Deutsch

Dieses Buch ist wie ein Traum. Es fällt schwer, sich später daran zu erinnern, was sich zugetragen hat. Denn passiert ist fast nichts. Der Roman „Das Mädchen meines Herzens“ von Buddhadeva Bose, der 1908 im ostbengalischen Komilla geboren wurde, lange in Kalkutta lebte und unter anderem Baudelaire, Hölderlin und Rilke ins Bengalische übersetzte, geht von einer schlichten Grundkonstellation aus. Vier reife Herren aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten müssen sich im Wartesaal einer Bahnstation die Nacht um die Ohren schlagen; ihr Anschlusszug hat erhebliche Verspätung. Sie vertreiben sich mit Geschichten die Zeit: tausendundeine Nacht auf Bengalisch. Als ihr Zug einfährt, sucht jeder von ihnen eiligst ein anderes Abteil auf: zu privat ist gewesen, was einer dem anderen anvertraut hat.

Bose, der mit diesem Buch erstmals ins Deutsche übersetzt wird, ist kein literarisches Leichtgewicht. Lange Zeit war der auch außerhalb seiner Heimat gefragte Intellektuelle eine wichtige Figur im bengalischen Literaturbetrieb; er veranstaltete in seiner Wohnung in Kalkutta Vorträge und Lesungen und gab die Zeitschrift „Kavita“ sowie eine kritische Darstellung der modernen bengalischen Literatur heraus, die auch für Bose nicht denkbar war ohne den bis heute in Europa bekanntesten bengalischen Dichter des 20. Jahrhunderts, Rabindranath Tagore, dem er nach eigenem Bekunden viel verdankt.

Die erste Liebe ist in der Literatur ein strapaziertes Thema. Mal wird es inszeniert als Abschied von der Pubertät, wie in der strengen Prosa des Ian McEwan, mal als Suche nach der verlorenen Zeit, wie in den bruchstückhaften Erzählungen eines Harold Brodkey. Oder eben als enorm sublimiertes Gefühl wie bei Bose – doch geht es in diesem Roman nicht wirklich um die erste Liebe. Eher um diffuse Verliebtheiten der Protagonisten, die Liebe im Wartestand. Und die Frauen?

Sie kommen einem mehr als Traumgeschöpfe denn als leibhaftige Wesen vor. Man müsse solch einem Traumgeschöpf einmal im Leben begegnet sein, „alles andere ist belanglos“, sagt einer in der nächtlichen Runde. Da hat er gerade die Geschichte des Bauunternehmers gehört, in der eine Mutter ihren Sohn mit einer Professorentochter verkuppeln will. Deren Eltern lehnen ab, und die arme Frau wird fortan von Rachegelüsten zerfressen. Um Stolz und Vorurteil geht es in dieser Episode und darum, wie angenehm es sein kann, anderen zu helfen.

Als europäischer Leser wundert man sich über die Art und Weise, wie bei Bose Frauen und Männer von ihren Eltern verkuppelt werden. Von sozialen und familiären Konflikten dieser Art, von Heiratsvermittlung, die nichts mit Liebe zu tun hat, handeln viele dieser Erzählungen. Ein Arzt aus Kalkutta gesteht, dass er nur deshalb von dem Mädchen seiner Träume geehelicht worden sei, weil sie dadurch der Hochzeit mit einem noch weniger Geliebten entgehen konnte. Selbstbewusste Frauenfiguren, wie wir sie von der indisch-amerikanischen Schriftstellerin Jumpa Lahiri kennen, kommen hier nicht vor. Meistens fügen sie sich in ihr Schicksal, behalten ihre Gefühle für sich.

Cees Noteboom hat einmal über das Geheimnis in der normierten Gesellschaft geschrieben: „Was für uns in einer Verführungsszene der Höhepunkt wäre, hat manchmal bereits stattgefunden, ohne dass man es (als heutiger Leser) bemerkt hat.“ In den Büchern von Buddhadeva Bose hat das, was wir nicht bemerkt haben könnten, wenn überhaupt dann mit einem anderen bereits stattgefunden. Denn den vier Erzählern dieser Winternacht im Wartesaal des Bahnhofs von Tundola bleibt von ihren ersten Liebeswirrungen nichts als die Erinnerung.

Buddhadeva Bose: Das Mädchen meines Herzens. Roman.

Aus dem Bengalischen und mit einem Nachwort von Hanne-Ruth Thompson. Ullstein Verlag, Berlin 2010. 192 Seiten, 18 €.

 Volker Sielaff

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