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Kultur: Visionen vom Leben

Vom Alltäglichen redet keiner mehr.Es ist abhanden gekommen.

Vom Alltäglichen redet keiner mehr.Es ist abhanden gekommen.Dafür wuchern die Träume, Träume vom Leben, das es nicht gibt.Aber geben könnte.Auch wer keine Arbeit, Freunde, Liebe mehr hat, baut an anderen, besonderen Wirklichkeiten.Gerade deshalb.Mit Trotz, mit Humor, mit Ironie.

So jedenfalls sehen zwei junge russische Dramatiker ihre Helden.Die Geschichten, die sie für die Eigensinnigen erfunden haben, schweben zwischen Tag und Nacht, sie knüpfen zauberische poetische Visionen, kennen rührende Melancholie und derben Spott.Oleg Bogajev und Farid Nagim, beide 1970 geboren, also noch nicht dreißig Jahre alt, leugnen nicht die große Tradition russischer Dramatik, begegnen ihr aber frei und mit einem neugierig kritischen Blick.Auch das Sozialistische unmittelbarer Vergangenheit scheint auf, aber die Erinnerungen an diese Zeit sinken ins Zitathafte, es ist, als wäre diese Epoche, mit KGB und Helden der Arbeit, mit gefeierten Proletariern und dem erhabenen Lenin, gar nicht erlebt worden, sondern nur ein böses Märchen, erzählt von Leuten, die längst vergessen sind.

Denn gab es ihn wirklich, diesen Rausch der Kollektivität? Iwan Shukow in "Russische Nationalpost" von Bogajew ist jedenfalls so einsam wie die Schriftsteller in Nagims "Der Schrei des Elefanten".Der biedere Alte und die zu keiner schöpferischen Arbeit mehr fähigen Intellektuellen machen dafür ihr Welttheater im Kopf.Shukow, der seinen 75.Geburtstag am Silvesterabend mutterseelenallein begeht, holt sich auf seine Art Freunde, Gratulanten her, Berühmtheiten aus Geschichte und Gegenwart.Er schreibt Briefe an sich selbst, korrespondiert mit Schulkameraden und Königin Elisabeth II., mit Wanzen und mit Kosmonaten auf dem Mars.Ein Abend zwischen Teetrinken und periodischen Herzanfällen ist prall mit Leben gefüllt, und diesen Reichtum schafft sich Iwan Shukow selbst.Er ist durch keine Niederlage aus der Ruhe zu bringen - denn immer wieder erkennt er seine Handschrift auf den überall in der ärmlichen Wohnung versteckten Postsachen.Auch der Brief des Todes, der ewiges Leben verspricht, ist ein ironischer Gag, den sich der Alte selbst ausgedacht hat.Oder doch nicht? Denn Lenin, Elisabeth und andere Prominente streiten sich schon um seine Wohnung.

Trickreich, mit nie versiegender Phantasie und rhetorischem Glanz geht der Rentner zu Werke.Bogajev schuf eine Figur, in der bei aller Trauer über vertanes Leben eine einzigartig grimmige Kraft steckt.Solchen inneren Widerstand gegen Widrigkeiten, die sie nicht meistern können, suchen auch der alte Schriftsteller Suchodolow und sein junger Gefährte Anwar in Farid Nagims "Der Schrei des Elefanten" zu finden.Homoerotische Beziehungen, unsicher, ängstlich, führen zu Lebensentwürfen, die unvermittelt abbrechen.Die Stunden, die Tage, die Jahreszeiten vergehen, nichts geschieht, Rauschgift hilft nur vorübergehend.Aber da sind wieder die Visionen, die Vorstellungen von ganz anderem Dasein, vom großen Roman, von der vielleicht doch möglichen Liebe.Auch diese kleinen Geschichten, angesiedelt in Moskau und Peredelkino, in einer seltsam verschwimmenden Zwischenzeit, sind virtuos erzählt, nachdenklich, aber ohne jede Wehleidigkeit.

Wie immer in der Baracke des Deutschen Theaters werden die Stücke in klug gestalteten Lesungen vorgestellt, mit Schauspielern (Christian Grashof, Stephan Grossmann, Klaus Manchen, um nur die Protagonisten zu nennen), die ihren Spaß an der Frische der Figuren und ihrer Sprache unmittelbar auf die Zuschauer übertragen.Über das dritte Stück in der Reihe "Neue russische Dramatik" ("Ich gehe fort" von Alexej Slapovskij) und über das abschließende Podium am Sonntag wird noch zu berichten sein.

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