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Vollmann-Lesung in Berlin: Bloodlands

Habemus Vollmann: Die Buchpremiere von William T. Vollmanns Roman "Europe Central" im Babylon Mitte.

Von Gregor Dotzauer

Wenn Bücher die Gestalt ihrer Autoren entwerfen könnten, dann wäre William T. Vollmann ein Schamane oder Exorzist. Ein Ohr in der Hölle, das andere an der Himmelspforte, dazwischen Blitz, Dampf und Donner. So müsste er auftreten, während der Mann, der im Babylon Mitte sein Epos „Europe Central“ vorstellt, doch eine ausgesprochen rustikale, ja vierschrötige Erscheinung ist. Gemessen an seiner Produktivität, traut man ihm höchstens berserkerhafte Schreibanfälle zu.

Von diesem Buch aus, dem Höhepunkt des Jahres, sagt sein Grazer Kollege Clemens Setz, könne es betrieblich nur noch abwärts gehen – oder für seinen Verfasser aufwärts zum Nobelpreis. Vollmann hört mit freundlicher Ungerührtheit zu, wie ihm sein Gesprächspartner auf den Knien seines Herzens rutschend huldigt, und gibt bereitwillig Auskunft über totalitäre Schuld und Sühne in seinem Roman.

Was hat er in den letzten Tagen nicht alles gehört. Er sei ein Genie und sein Roman ein Meisterwerk. Tatsächlich sucht er nach dem Mysterium tremendum des Bösen mit einer Differenziertheit, die etwa Jonathan Littells „Wohlgesinnten“ fehlt. Und doch hört man in all den Hymnen auch die Sehnsucht nach einer neuen überragenden Figur. Habemus Vollmann.

Theologische Aspekte finden sich denn auch reichlich. „Irgendetwas bringt mich immer wieder dazu, die Schuld für das auf mich zu nehmen, was Gott getan hat“, sagt der deutsche Oberst Hagen, einer der Hauptangeklagten bei den Nürnberger Prozessen. „Und was, wenn dieses Irgendetwas auch ein Teil von mir ist?“ Und er sagt auch: „Die Rolle der Deutschen in Europa ist es, für alles die Schuld auf uns zu nehmen. Wir begehen Verbrechen, damit ihr anderen euch rein fühlen könnt.“

Auf nur fünf Seiten treibt Vollmann in dem Kapitel „Unternehmen Hagen“ da einen Stollen durch die Literatur vom Nibelungenlied bis zu Dostojewski, von der Wolfsschanze bis ins zerstörte Berlin. Überhaupt ist der Resonanzraum dieses Buchs von kathedralenhafter Weite. Wassili Grossmans Stalingradroman „Leben und Schicksal“, Warlam Schalamows Lagererzählungen aus Kolyma oder das anstistalinistische „Grabmal für Boris Dawidowitsch“ von Danilo Kiš, dessen Andenken der Roman gewidmet ist – von Tolstois „Krieg und Frieden“ zu schweigen: All das schwingt mit und verschwimmt zuweilen im halligen Pomp der Bezüge .

„Wenn ein Regime böse ist, in welchem Ausmaß ist dann der Einzelne böse?“ Das ist eine der vielen unentscheidbaren Fragen, der er sowohl in der Figur des SS-Offiziers Kurt Gerstein wie in der von Schostakowitsch exemplarisch nachgeht. Man muss ihm nicht sagen, dass seine moralischen Zwickmühlen manchmal kaum auszuhalten sind: „Ich habe so viele glückliche Enden ausprobiert, aber eine Geschichte ist erst dann zu Ende, wenn sie das einschließt, womit sie aufhören muss: mit dem Tod.“ Gregor Dotzauer

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