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Theatertier. Winfried Radeke im Saal der Neuköllner Oper.

© Sven Darmer

Vom Kirchenchoral zur Volksoper: Er erfand in den Siebzigern die Neuköllner Oper

Winfried Radeke arbeitete früher als Kantor. Dann wurde er Pionier der Freien Szene. Heute wird der Komponist 80 Jahre alt. Eine Begegnung.

Oper gut und schön, aber im Arbeiterbezirk Neukölln? Gerade, nickt Winfried Radeke. In Charlottenburg gab’s ja schon eine. „Das wäre sinnlos gewesen.“ Damals, in West-Berlin. Nein, sein Musiktheater sollte ausdrücklich dahin, wo kulturelle Wüste, wo Oper der größtmögliche Gegensatz war. Der Eintritt bezahlbar für alle, die Inszenierungen frech, das Volk willkommen.

Mit der freien, längst in die Konzeptförderung des Senats aufgenommenen Bühne, die 1988 im Ballsaal der Passage am U-Bahnhof Karl-Marx-Straße ein festes Haus erhielt, hat die Neuköllner Oper anfangs noch nichts zu tun.

Da ist der am 30. November 1940 in Berlin geborene Kirchenmusiker, Kapellmeister, Komponist und Regisseur Winfried Radeke nicht nur ihr Erfinder, sondern auch Ein-Mann-Betrieb. Stücke finden oder komponieren und inszenieren, Sängerinnen und Musiker anwerben. Das macht Radeke in den Gründerjahren der Siebziger in Personalunion. Seither sind einige Regalmeter an Produktionspartituren zusammengekommen.

Im Korrepitionsraum, den der heutige Ehrenvorsitzende des Opernvereins, der 30 Jahre ihr künstlerischer Leiter war, stapeln sie sich hoch unter der Decke. „Wir haben immer gespielt, was andere nicht spielen“, sagt Radeke, den alle hier Winni nennen.

Das Konzertständchen zu seinem 80., das die Neuköllner Oper an diesem Montag für ihn geplant hat, fällt aus. Das findet Radeke am trostlosen Kultur-Lockdown noch am wenigstens tragisch. Geburtstage sind nicht so sein Ding. „Leider ist es die einzige Methode, um alt zu werden.“

Im Brotjob arbeitet er als Kantor

Auf dem Weg durch das geschlossene Theater, wo Handwerker noch für die nun im Dezember ausfallende Premiere von Moritz Rinkes „Der Mann, der sich Beethoven nannte“ werkeln, wird er rechts und links begrüßt. Einen Fahrstuhlschlüssel hat er auch. Jeder zweite Radeke-Satz beginnt mit „Wir“. Obwohl der Ruheständler im Bayerischen Viertel lebt, ist er nach wie vor in der Neuköllner Oper zu Haus.

Vierzig Kapitel umfasst die Hauschronik, die Radeke eigentlich längst zu Ende geschrieben haben wollte. Nur, kommt er vor lauter musikalischen Aktivitäten nicht dazu. „Als Komponist bin ich ja sowieso im Homeoffice.“ 16 Opern, drei Oratorien, eine Symphonie, Chormusik und viele, viele Kinderlieder hat er verfasst, die „Neuköllner Gesänge“.

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Kaum, dass er von ihnen erzählt, ist man gleich mittendrin in den soziokulturellen Sumpfblüten der sogenannten Basisarbeit, die Winfried Radekes Macher-Talent beförderte. Eigentlich habe das mit den 68er Studentenprotesten und in der Kirche angefangen, erzählt er. Die politisierte Jugend will auch in der Kultur alte Zöpfe abschneiden. Eine freie Szene entsteht. Ensembles wie Rote Grütze, die Theatermanufaktur, die Tanzfabrik in Kreuzberg.

Radeke, der im Brotjob zeit seines Lebens als Kantor arbeitet, gerät in der Neuköllner Martin-Luther-Gemeinde in ein Modell namens „Gruppenpfarramt“ aus Pfarrern, Psychologen und Soziologen. „Da haben wir über Christentum und Sozialismus diskutiert“. Wie sich das in der linken Kirchen-Bewegung der Siebziger gehörte.

„Die Vögel“, Musik und Text Winfried Radeke, sehr frei nach Aristophanes, gerieten 1981 zum Kultstück.
„Die Vögel“, Musik und Text Winfried Radeke, sehr frei nach Aristophanes, gerieten 1981 zum Kultstück.

© Neuköllner Oper

Die musikbegeisterten Pfarrer wünschen Kultur und sie bekommen sie. Radeke leitet zehn Kindermusikgruppen und führt erste Produktionen im 500 Leute fassenden Kirchenschiff auf, darunter eine „Carmina Burana“ mit Straßenkindern, die eh immer vor der Kirche herumlungern.

Er gewinnt Sänger aus einem von ihm geleiteten studentischen Kammerchor, später Instrumentalistinnen aus dem ebenfalls von ihm geführten Collegium Musicum der West-Berliner Universitäten. Dass der zeitweilig als „roter Winni“ verschrieene Radeke gut mit dem musikalischen Nachwuchs kann, prägt bis heute das Profil der Neuköllner Oper.

Verrückt muss man schon sein

Doch auf Dauer sind Kirchen keine Option für seine Inszenierungen. „Da musste man vor der Trauung die Bühne abbauen und hinterher wieder aufbauen.“ Außerdem seien die Pfarrer eifersüchtig geworden, weil immer mehr Leute im Kirchenbüro anriefen, die nach Karten für die „Neuköllner Oper“ fragten. Es folgen Wanderbühnen-Jahre bis Senat und Bezirkskulturamt die eigene Spielstätte möglich machen. „Man muss schon verrückt sein“, kommentiert Radeke im Rückblick kopfschüttelnd die eigene Klinkenputzerei.

Oder ein Pionier, ein Theatertier. So nennt ihn zumindest Peter Lund. Berlins populärster Musicalmacher und Musical-Professor muss nicht lange grübeln, als er am Telefon spontan nach Winfried Radeke gefragt wird. Winni sei ein hochmusikalischer Macher, der alle Belange des Musiktheaters selber kann, sagt er, „ein Wegbereiter und mein Entdecker“.

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1987 hat er im zarten Alter von 22 Jahren sein erstes eigenes Stück an alle deutsche Theater geschickt. Reaktionen: null. Da war er noch Architekturstudent an der TU. Der einzige, der sich für seine Idee begeistert, aus der Nazi-Operette „Hochzeitsnacht im Paradies“ ein Backstage-Stück zu machen ist, sei Radeke gewesen.

Nach einer Bewährungsprobe als Regisseur eines Abends mit Mozart-Fragmenten namens „Die Gans von Kairo“ habe er ihm vertraut und ihn die „Hochzeitsnacht“ einfach machen lassen. „In den Achtzigern hat ja keiner Operette gespielt“, sagt Peter Lund.

Und auch was die Ausgrabung von Musiktheaterstoffen angeht, sind Radeke und Lund, der vor seiner UdK-Professur acht Jahre in der künstlerischen Leitung der Oper gearbeitet hat, Avantgardisten. Bevor Barrie Kosky in der Komischen Oper Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ für sich entdeckte, haben sie sie 1996 schon in Neukölln gezeigt.

Seit Jahrzehnten gräbt er Werke NS-verfolgter Musiker aus

Winfried Radeke ist besonders „Der Kaiser von Atlantis“ in Erinnerung geblieben. Seine 1989 aufgeführte Ausgrabung des von Viktor Ullmann im Ghetto von Theresienstadt komponierten Welttheaters nennt er eine seiner wichtigsten Inszenierungen.

Die Produktion gibt den Anstoß zu dem von ihm mitgegründeten Verein „Musica reanimata“, der die Erinnerung an NS-verfolgte Musiker und ihre Werke pflegt, Alben herausgibt und fünf Mal im Jahr Gesprächskonzerte im Konzerthaus veranstaltet.

Winfried Radeke fungiert als Organisator und Moderator. „Hoffentlich kann das nächste zum Kabarettisten Willy Rosen stattfinden.“ Da es erst für April im Konzerthaus angesetzt ist, gibt es trotz des prophetischen Titels „Wo man hinhört, lauter Pleiten!“ Hoffnung.

Zwischen Mozart-Opern, Bach-Kantaten und Kabarettliedern der Zwanziger und Dreißiger hat Radeke noch nie einen Unterschied gemacht. Die alte E- und U-Leier spielt für ihn keine Rolle. Genau das hat den Erfolg der Oper möglich gemacht.

Ebenso wie das Bestreben, der frischen Selbermacher-Attitüde die nötige Professionalität beizugesellen. Winfried Radeke lacht und spricht: Ohne Proben ganz nach oben, das habe noch niemals geklappt.

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