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57 Tagebuch-Bände mit mehr als 15000 eng beschriebene Seiten hinterließ Harry Graf Kessler; hier Einträge aus dem Jahr 1908.

© DLA Marbachl

Harry Graf Kessler: Von „Helena“ gelangweilt, von Stravinsky elektrisiert

In seinen Tagebüchern schreibt Harry Graf Kessler auch über die Musik seiner Zeit. Bei Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthals ging er ein und aus.

Über die „drolligen politischen Ansichten“ von Richard Strauss, die jedoch niemand ernst nehme, schrieb Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch. Am 14. Juni 1928 redete der Komponist von der „Notwendigkeit einer Diktatur usw.“, ein Gespräch sei beim Frühstück der Familie Strauss im Hause Hugo von Hofmannsthals in Rodaun bei Wien jedoch nicht in Gang gekommen. Das Verhältnis der einstigen Freunde war zu diesem Zeitpunkt schon empfindlich getrübt.

Am Abend hörte Kessler die neueste Oper von Richard Strauss, war von der „Ägyptischen Helena“ aber derart gelangweilt, dass er sich sehr freute, weder mit dem Komponisten noch mit dem Librettisten Hofmannsthal darüber reden zu müssen. Zwanzig Jahre zuvor sah das noch anders aus. Hugo von Hofmannsthal widmete seinen „Rosenkavalier“ dem mitdichtenden Grafen, dem er entscheidende Anregungen verdankte. Kessler zeigte sich geehrt und geschmeichelt, auch wenn er die Ansichten von Richard Strauss und dessen Frau Pauline eher staunend zur Kenntnis nahm.

Der Briefwechsel während der Arbeit am „Rosenkavalier“ richtet sich dann auch vor allem an den Schriftsteller, weniger an den Komponisten. Offenbar zweifelte er einige Monate später jedoch nicht daran, dass Richard Strauss der Richtige wäre für ein neues Ballett, das er für den Startänzer Vaslav Nijinsky entworfen hatte und dessen Ausformulierung wiederum Hugo von Hofmannsthal übernahm. Am 14. Mai 1914 wurde „Josephs Legende“ in der Pariser Oper zum ersten Mal aufgeführt.

Diesmal war es kein Skandal wie die Uraufführung von Stravinskys „Le sacre du printemps“ ein Jahr zuvor im Théâtre des Champs-Élysées, bei der Harry Graf Kessler ebenfalls anwesend war. Seinem Tagebucheintrag aus derselben Nacht ist anzumerken, dass er den erwarteten Skandal als Zeichen einer großen ästhetischen Revolution erkannte: „Eine ganz neue Choreografie und Musik. Eine durchaus neue Vision, etwas Niegesehenes, Packendes, Überzeugendes ist plötzlich da; eine neue Art von Wildheit in Unkunst und zugleich in Kunst: alle Form verwüstet, neue plötzlich aus dem Chaos auftauchend.“

Richard Strauss tat sich mit dem Sujet von „Josephs Legende“ hingegen schwer. Er müsse sich höllisch zwingen, Musik für die Auseinandersetzung des keuschen Josephs mit seinem Gott zu skizzieren, vielleicht finde er in „irgendeiner atavistischen Blinddarmecke“ doch noch eine fromme Melodie, schrieb er. Während seiner Tätigkeit als Propagandist für das Deutsche Reich in der Schweiz wollte Kessler während des Ersten Weltkriegs Friedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell“ mit einer neuen Schauspielmusik von Strauss spielen lassen. Doch zu dem Projekt kam es nicht mehr. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal war bereits 1911 merklich abgekühlt.

Zwar besucht er etwa im November 1927 eine Aufführung von Ernst Kreneks Oper „Jonny spielt auf“ und charakterisiert sie kurz und knapp als „abendfüllenden Sketch, in dem Gutes, Gleichgültiges und Kitschiges durcheinanderwirbeln“, verpasst aber kurz darauf Kurt Weill, mit dem er über ein Ballett reden wollte, und scheint darüber nicht sonderlich betrübt. Er erkennt zwar die Bedeutung von Paul Hindemiths „Cardillac“ und Alban Bergs „Wozzeck“ als den bedeutendsten Opern der Weimarer Republik, im Vergleich zu seinen Äußerungen über Literatur und Schauspiel fallen die Notizen zur Musik aber auffallend kurz aus.

Lesen Sie mehr zur Ausstellung "Harry Graf Kessler - Flaneur durch die Moderne" in Berlin, kuratiert von Christoph Stölzl.

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