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Kultur: Vor 300 Jahren wurde Jean-Siméon Chardin geboren

Der französische Genremaler galt als Vorläufer des Sozialistischen RealismusJörg von Uthmann Wenn die Franzosen vom 18. Jahrhundert sprechen, dann nennen sie es gern "das galante Zeitalter".

Der französische Genremaler galt als Vorläufer des Sozialistischen RealismusJörg von Uthmann

Wenn die Franzosen vom 18. Jahrhundert sprechen, dann nennen sie es gern "das galante Zeitalter". Galanterie - damit war das Gegenteil von großen Gefühlen gemeint. Die Liebe wurde als Gesellschaftsspiel betrieben, als amüsanter Zeitvertreib, bei dem Leidenschaft ebenso fehl am Platz war wie eheliche Treue. Eine Frau, die keine Liebhaber hatte, galt nicht als tugendhaft, sondern als reizlos, ein Mann ohne Mätressen als impotent. Nur Spießer ließen sich zu Eifersuchtsszenen hinreißen. Der Marquis du Châtelet nahm es hin, dass er seine Frau jahrzehntelang mit Voltaire teilen musste.

In der Malerei jener Zeit wimmelt es von neckischen Schäferspielen, verstohlenen Küssen und schaukelnden jungen Damen, die uns einen Blick in ihre Dessous gewähren. Kein Bild ist typischer als Bouchers üppige Kokotte, die den Besuchern der Alten Pinakothek stolz ihren rosigen Hintern präsentiert. Bouchers Zeitgenosse Jean-Siméon Chardin wäre dagegen nie auf den Gedanken gekommen, eine nackte Frau zu malen. Für ihn waren Frauen keine sinnlichen Verführerinnen, sondern sittsame Wesen, die am Herd standen, Rüben putzten und die Kinder zum Tischgebet anhielten. Chardin ist der große Unzeitgemäße des galanten Jahrhunderts. Er hat Paris nie verlassen. Keine Romreise, keine Seitensprünge, kein Antichambrieren in den Schlössern des Adels. Bescheiden lebte er in einem winzigen Umkreis der Rue de Seine, in der er 1699 zur Welt kam. Nach seiner Eheschließung zog er hundert Meter weiter in die Rue Princesse. 1757 verschafften ihm Freunde von der Akademie eine kleine Wohnung im Louvre. Hier ist er 1779 gestorben.

Ehrgeiz war Chardins Sache nicht. Doch seine Bescheidenheit hatte auch materielle Gründe. Seinem Vater, einem Drechsler, der sich auf Billardspiele spezialisiert hatte, fehlte es am Geld, um seinen begabten Sohn auf die École des Beaux-Arts zu schicken. Die angesehenste und einträglichste Gattung, die Historienmalerei, blieb ihm daher verschlossen. Stattdessen tat er es den Niederländern nach und übte seine Kunst an Stillleben. Er malte, was auf den Tisch kam: Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass die abgebildeten Eier, Zwiebeln, Hühner und Fische später im Kochtopf von Madame Chardin landeten. Einer dieser Fische, ein blutroter Rochen, erregte die Aufmerksamkeit der Akademie, die Chardin als "Talent für Tiere und Früchte" aufnahm. Später ernannten sie ihn sogar zu ihrem Schatzmeister und zum lapissier du salon, der bei den Jahresausstellungen für die Hängung der Bilder verantwortlich war.

Dass er die Welt der Tiere und Früchte verließ und sich den Menschen zuwandte, verdankt die Kunstgeschichte seinem Freund, dem Porträtmaler Jacques Aved. Als sich Aved mit einem gutdotierten Auftrag brüstete, den er soeben abgelehnt habe, fiel Chardin aus allen Wolken: So viel hatten ihm seine Stillleben nie eingebracht. "Ja", antwortete ihm der Kollege, "ein Porträt ist eben etwas anderes als eine Schlackwurst."

Chardins erste Figuren, meist Frauen und Kinder, haben noch etwas rührend Steifes. Aber bald hatte er den Schwung heraus. Seine häuslichen Szenen verbinden Lebensnähe und Anmut mit größter künstlerischer Ökonomie: Anders als bei den holländischen Genremalern wirken seine Bilder nie überfüllt; anders als bei seinem Zeitgenossen Greuze sind sie nie moralisierend oder sentimental. Erst gegen Ende seines Lebens versuchte sich Chardin an einigen Porträts - in Pastellfarben, da seine Augen die Öldünste nicht mehr vertrugen. Seine beiden Selbstbildnisse gehören zu den großartigsten des 18. Jahrhunderts.

Erstaunlicherweise haben nicht die Maler, sondern die Literaten den halbvergessenen Chardin wiederentdeckt. Dabei hätte sein raffinierter Farbauftrag - eine Technik, die er vor seinen Zunftbrüdern sorgfältig geheimhielt - eigentlich die Impressionisten neugierig machen müssen. Aber es waren die Brüder Goncourt, Marcel Proust und André Gide, die sich für ihn begeisterten. Der Klassenkämpfer Aragon beförderte Chardin sogar zum Kommunisten avant la lettre und zum Vorläufer des sozialistischen Realismus: "Es steht fest, dass Chardin, indem er darauf bestand, den bürgerlichen Alltag zu malen, gegen die Interessen des Adels und des Königtums verstieß und das revolutionäre Klima vorbereitete."

Die letzte Chardin-Ausstellung bekamen die Pariser vor 20 Jahren, anlässlich seines 200. Todestages, zu sehen. Jetzt ist es sein 300. Geburtstag, der im Grand Palais gefeiert wird. Mit knapp 100 Gemälden ist die Schau etwas kleiner als die letzte, dafür aber schwergewichtiger. Sogar die Frick Collection, die sonst nie verleiht, hat zwei Meisterwerke beigesteuert. Einige Bilder sind mehrfach vorhanden - "Das Tischgebet" und "Der Seifenbläser" zweimal, "Die Hausbesorgerin" dreimal: Wie Lenbach, Magritte und andere Kollegen fand Chardin nichts dabei, besonders erfolgreiche Stücke zu kopieren. Richard Peduzzi, der Bühnenbildner, der Patrice Chéreaus Bayreuther "Ring" visuell umsetzte, hat die Ausstellung inszeniert. Und siehe da, die trostlosen Hallen des Grand Palais sehen beinahe wohnlich aus.Grand Palais, Paris, bis 22. November; ab 5. Dezember in Düsseldorf. Katalog 240 Francs. © 1999

Jörg von Uthmann

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