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Kultur: Vor dem Auftritt

Der Mythos lebt: Keine Zeit der Vergangenheit vermag uns heute noch so stark zu faszinieren wie die zwanziger Jahre. Damals war das Leben wild und gefährlich, und die Menschen, getrieben von Leidenschaften, ergaben sich den dekadentesten Ausschweifungen.

Der Mythos lebt: Keine Zeit der Vergangenheit vermag uns heute noch so stark zu faszinieren wie die zwanziger Jahre. Damals war das Leben wild und gefährlich, und die Menschen, getrieben von Leidenschaften, ergaben sich den dekadentesten Ausschweifungen. Es war eine Welt voller Laster, ein Tanz auf dem Vulkan, immer am Rande des Abgrunds, der das Lebensgefühl bis zum Äußersten zu steigern vermochte.

So jedenfalls erscheint es - trotz des ebenfalls gezeigten sozialen Elends bei Dix, Grosz oder Schad, die auf ihren Bildern der zwanziger Jahre ein Panoptikum der Extravaganzen auftreten ließen. Sie waren es nicht alleine, die den unverwechselbaren Rhythmus dieser Zeit, den Glanz und die Verwerfungen wirkungsvoll in Szene zu setzen verstanden. Es gab auch die Künstlerin Jeanne Mammen, die 1890 geborene Berlinerin, deren nahezu originalgetreu erhaltenes Atelier am Kurfürstendamm 29 allen Kunstliebhabern dringend ans Herz gelegt sei (Besuch nur nach telefonischer Rücksprache möglich). Von ihr zeigt die Galerie Brockstedt gegenwärtig eine Ausstellung mit frühen Aquarellen, Druckgrafiken und Zeichnungen. Boris Brockstedt scheint dafür wie berufen, denn sein Vater, der Hamburger Kunsthändler Hans Brockstedt, war der erste, der die zurückgezogen lebende Künstlerin in den späten sechziger Jahren für den Kunstmarkt wiederentdeckte.

Heute hat sich die Situation gewandelt, Jeanne Mammen ist durch zahlreiche Ausstellungen wieder fest im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert. Entsprechend selten sind ihre begehrtesten und wohl schönsten Arbeiten - die Aquarelle aus den zwanziger Jahren, von denen Brockstedt immerhin zwei als unverkäufliche Leihgaben vorweisen kann. "Sie repräsentiert" und "Vor dem Auftritt", beide um 1928 entstanden, zeigen das mondäne Berliner Leben in einer gleichsam gereinigten, von allen abstoßenden Hässlichkeiten befreiten Weise. Die Motive - ein kokettes, zum hübschen Mannsbild herausstaffiertes Mädchen und eine Gruppe selbstvergessener Revuegirls in der Garderobe - sind ohne jede demaskierende Schärfe wiedergegeben und offenbaren in ihrer wohlgefälligen "Schönheit", dass das Flair der zwanziger Jahre nicht erst seit heute zu einem Bild der Vorstellung und der sehnsüchtigen Phantasie geworden ist. Ihr Zug ins Illustrative kommt nicht von ungefähr: Die beiden Blätter wurden 1928 im "Simplicissismus" und in der "Jugend" veröffentlicht. Mammen lebte in den Zwanzigern vor allem von Aufträgen für verschiedene Journale, Magazine und Modezeitschriften und war angehalten, den kultivierten Geschmack, die Lust der Leser am schönen Schein zu befriedigen.

Auch bei den Zeichnungen aus den Caféhäusern und Bars wird man, so reizvoll die Arbeiten sind, den leisen Verdacht nicht los, sie seien weniger erlebt als erfunden. Hat sich die Künstlerin einfach geschickt dem Zeitgeist angepasst, oder wollte sie vielleicht auf raffiniert-subversive Weise die damals schon zum Klischee verkommenen Motive persiflieren? Näher bei sich selbst scheint sie bei den wunderbar spröden, im Duktus äußerst sperrigen Bleistift-Porträts aus den späten dreißiger Jahren zu sein. Doch vielleicht war die wahre Jeanne Mammen auch die empfindsame, schüchterne junge Frau, die mit ihren Lithografien zu den "Liedern der Bilitis" ihrer tiefsten geheimen Sehnsucht Ausdruck verliehen hat. So gefühlvoll wie in diesen Werken ist sie in ihrer Kunst nie wieder gewesen. Wie berichtet wird, verstand sie es meisterhaft, ihre Gefühle hinter einem Schutzwall aus ruppiger Selbstironie zu verbergen.

Markus Krause

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