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Christine Lemke-Matwey

© Jörg Schulze

Wagner-Werkstatt (2): "Seniorengymnastik" auf dem grünen Hügel

Das gab's noch nie: Eine Journalistin, die in Wagners Allerheiligstes vorgelassen wird und dort die nächsten sechs Wochen zubringen darf. Diesmal beobachtet Christine Lemke-Matwey Regisseur Hans Neuenfels beim Treppensteigen.

Auf der Vormittagsprobe vor zwei Tagen habe ich’s genau gezählt. 17 Mal ist Hans Neuenfels, der Regisseur, von seinem Regiepult in Reihe 14 hinunter auf die Bühne gerannt. 17 Mal hin, 17 Mal wieder zurück, 14 Treppenstufen hinunter bis in die erste Reihe, dann sechs Stufen die kleine Brücke hinauf, die über den Orchestergraben führt und bühnenseits wieder sechs hinunter. 17 x 26 x 2 macht 884 Treppenstufenberührungen. „Seniorengymnastik“ nennt Neuenfels das, der Mann ist 69, das sollte man vielleicht nicht vergessen. Ist er nicht ganz so gut drauf, arbeitet er sich Stufe für Stufe für Stufe voran; ist er enflammiert, weil Evelyn Herlitzius und Lucio Gallo sich mal wieder die Seele aus dem Leib spielen, dann schwebt er 20 Zentimeter über dem heiligen Bretterboden, nimmt zwei, drei Stufen auf einmal, jauchzt ins Mikrofon. Überhaupt könnte man in dieser ersten Woche meinen, die Oper hieße „Ortrud“ (Evelyn Herlitzius) oder „Telramund“ (Lucio Gallo) – jedenfalls nicht „Lohengrin“, denn Lohengrin alias Jonas Kaufmann ist noch gar nicht da. Was die Sache ein bisschen schwierig macht. Elsa alias Annette Dasch ist nämlich auch noch nicht da. Und der Chor und das Orchester ebenfalls nicht. Die kommen alle erst in der zweiten Woche.

Ortrud und Telramund sind die Bösen im „Lohengrin“, die Widersacher, das Intrigantenpaar, das mit fiesen Mitteln auf den Thron von Brabant drängt. Ihnen gibt Wagner, wie so oft, die kühnste, modernste, tollste Musik im ganzen Stück. Bosheit macht erfinderisch, könnte man sagen, oder auch: Bei den Neidern, Lügnern und Verrätern ist dem Komponisten jede Konvention egal, da wird das musikalische Regelwerk außer Kraft gesetzt. Das Ortrudmotiv zum Beispiel, lese ich beim Musikwissenschaftspapst Carl Dahlhaus, bestehe „aus einem ungeteilten Vordersatz und der Wiederholung einer Zweitakt-Phrase, die < ...> keinen Abschluss bildet.“ Hm. Das verstehe (und höre!), wer will. Normalerweise scheint die deutsche romantische Oper offenbar Vier- und Achttaktgruppen zu bevorzugen. Nun ja. So viele Kilometer kluge Sachen wie über Wagner sind wahrscheinlich sonst nur über Goethe und Jesus Christus geschrieben worden.

Das besagte Treppensteigen hat einen einzigen, in der Theaterlandschaft ziemlich einzigartigen und letztlich luxuriösen Grund: Der Bayreuther „Lohengrin“ wird (wie jede Neuproduktion auf dem Grünen Hügel) vom ersten Tag an auf der Bühne probiert. Im nahezu fertigen Bühnenbild. Das heißt: Die Sänger gewöhnen sich erst gar nicht an die intime Fummeligkeit einer Probebühne, ans Vorläufige und Markierte. Im Festspielhaus gibt es kein Irgendwie und kein „Als ob“, hier ist alles echt, alles total original. Die Entfernungen, die Requisiten, die Umbauten, der Blick zum Dirigenten in den Graben. Nur dass Hans Neuenfels von seinem Regiepult in Reihe 14 aus eben ein bisschen viel unterwegs ist.

Aber wozu gibt es Assistenten und Hospitanten? Zehn Stück zählt die Produktion, irgendwie kommt immer noch mal einer hinzu, blutjunge, emsige Menschen beiderlei Geschlechts, die mit ihren aufgeklappten Regiebüchern wie Fledermäuse ausschwärmen, hier die Kinderstatisterie einweisen, dort ein Probenkostüm ändern, da Elsa mimen oder Lohengrin oder dem Regisseur aus der Kantine ein Getränk holen. Doch halt! Wer Neuenfels’ Faible für animalische Allegorien kennt und jetzt meint, kombinieren zu müssen, Fledermäuse, ahaaa! – der ist auf dem Holzweg. Die Fledermaus wird nicht das beherrschende Tier dieser Inszenierung sein. Und der Schwan auch nicht, das wäre ja konventionell, pures Klischee, Märchenkitsch, Neuschwanstein!

Die Frage allerdings, was das alles soll, wird die Aufführung beantworten müssen. Ein Ritter, der in einem Schwan dahergesegelt kommt, um erst die liebliche Elsa und dann die verderbte Welt zu retten? „Während des Folgenden kommt der Schwan mit dem Nachen vollends am Ufer an: Lohengrin steht darin in silberner Waffenrüstung, den Helm auf dem Haupte, den Schild im Rücken, ein kleines goldenes Horn zur Sei-te, auf sein Schwert gestützt“, lautet Richard Wagners Regieanweisung zum ersten Auftritt seines Helden. Zum einen wird es diesen Sommer so garantiert nicht aussehen, und zum anderen sind wir noch nicht so weit. Der Hauptdarsteller fehlt, wie gesagt. Und die Proben gehen weiter. 1360 Stufen mal zehn Assistenten macht 13600. Oder wie pflegt Eva Wagner-Pasquier zu sagen? Es wird einem viel abverlangt auf dem Grünen Hügel.

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