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Kultur: Ware Liebe

Der Cannes-Sieger „L’enfant“ und die Verwahrlosung des Gefühls

Kein Sozialarbeiter hätte ihnen das Kind gelassen. Keine Arbeit, kein fester Wohnsitz, nicht mal eine dauerhafte Beziehung. Dazu noch jung, die beiden, gerade mal 18 und 20 Jahre alt, fast selbst noch Kinder. Wie Kinder tollen sie herum, bei einem Ausflug auf dem Autobahnrastplatz. Eine ganz junge Liebe, unbeschwert, anrührend und naiv. Man mietet sich ein Cabrio, für einen Tag, und kauft sich Lederjacken im Partnerlook.

Das Drama kommt völlig unerwartet. „Ich habe das Kind verkauft“, eröffnet Bruno seiner Freundin Sonia. „Für 5000 Euro. Wir können ja ein neues machen.“ Er hat es verkauft, wie die gestohlenen Autoradios, Handtaschen, wie den Schmuck und die übrigen Sachen, mit deren Erlös sich der blonde Schlaks über Wasser hält. Gestohlen ist auch das eigene Neugeborene, seiner Freundin entführt, während sie in der Warteschlange beim Sozialamt steht. Mit dem Kinderwagen ist er losgezogen, hat erst bei Passanten die Mitleidstour versucht, Leute, ein Vater bettelt hier für seinen Sohn – und das Kind dann für die anonymen Kinderhändler in einer leeren Wohnung deponiert, vorsichtig, auf der eigenen Lederjacke. Die Ware ist kostbar, 5000 Euro sind viel Geld. Und eine Ware ist es doch.

Es gibt solche Fälle, in den Medien werden sie immer wieder mit Abscheu kolportiert. Mütter, die ihre Kinder vernachlässigen, aussetzen im Park oder ersticken, gleich nach der Geburt. Groß ist dann die Erschütterung über soziale Kälte, Verantwortungslosigkeit, fehlende Mitmenschlichkeit. Was ist das für eine Welt, fragt man dann gern, in der solche Dinge passieren, und die Nachbarn sehen einfach weg? Und wie kommen solche Menschen dazu? Man kann es nicht erklären, auch nicht damit, dass schon die Eltern ohne Liebe, ohne Fürsorge und Zärtlichkeit aufwuchsen. Zumindest nicht ganz erklären.

Die belgischen Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne zeigen nun so einen Fall, in ihrem dieses Jahr in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film „L’enfant“ – und erklären nichts. Er ist noch nicht einmal unsympathisch, dieser Bruno (herausragend: Jérémie Rénier), mit seinem blonden Wuschelhaar und dem charmanten Grübchenlächeln. Er ist zärtlich zu seiner Freundin (Déborah François), wenn er denn Lust und Zeit hat, er behandelt auch seinen Sohn mit einer unbeholfenen, neugierigen Fürsorglichkeit – und scheint ihn dann wieder völlig zu vergessen. Vor allem weigert er sich, Verantwortung zu übernehmen. Sonias Wohnung wird untervermietet, während sie im Krankenhaus liegt, und man zieht kurzerhand ins Obdachlosenasyl. Das gerade erbeutete Geld wird gleich wieder zum Fenster herausgeworfen, „Geld finde ich immer, das muss ich nicht aufheben“. Arbeit ist sowieso „was für Arschlöcher“, sagt Bruno – ein selbst ernannter Robin Hood, ungebunden und bewundert von den Kinder-Ganoven, die er anführt als cooler Chef der Bande.

Wenn man nun sagt, dass dieser Bruno am Ende schmerzlich Verantwortung lernen wird, wenn man von Katharsis spricht und davon, dass dieses so unmögliche wie zärtliche Paar schließlich erneut zueinander finden wird in einer zögernden, sehr labilen Balance, dann unterstellt man schon mehr Moral, als die Brüder Dardenne seit „La Promesse“ (1996) und „Rosetta“ (1999) in so realistischen wie strengen Filmen anlegen. Denn sie bewerten eben nicht, steuern nicht auf eine Lösung zu, bei der man am Ende weiß, das war schlecht und das gut, und so verläuft der Weg dahin. Sie gehen nur eine Zeit lang mit, mit Sonia und Bruno – als wohlwollende Beobachter.

Und doch gibt es ein Kontinuum, einen Weg der Dardennes: Konsequent halten sie an ihrem Thema fest und an ihrem Ort. Seraing, eine kleine Industriestadt bei Lüttich, ist Schauplatz aller ihrer Filme, ein dreckiger Fluss, rostige Werften, stillgelegte Industrieanlagen, trostlose Wohnblocks, ein Ort für Außenseiter, für Einsamkeit. Auch das Personal bleibt gleich, die Anwohner als Laiendarsteller, dazu Schauspieler wie Olivier Gourmet, Emilie Dequenne, Jérémie Rénier und Déborah François: widerständige Gesichter, herb, verletzlich, man kommt ihnen so nah wie selten im Kino.

Und das Thema bleibt: die Familie. „Der Sohn“ hieß der letzte Film der Dardennes, 2002, und erzählte von einem Vater, der den Mord an seinem Sohn sühnt, nicht rächt. „Der Vater“ hätte der jetzige Film heißen sollen, und ist dann doch „L’enfant“ („Das Kind“) geworden. Weil es um beide geht, Sonia und Bruno, und ihre seltsame kleine Familie. Und weil Bruno, der Vater, das eigentliche Kind ist, und der Film davon erzählt, wie er schließlich erwachsen wird.

In Berlin ab Donnerstag in den Kinos Filmkunst 66, Kulturbrauerei und Yorck. OmU in den Hackeschen Höfen und fsk am Oranienplatz

Christina Tilmann

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