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Was machen wir heute?: Abtauchen

Wie ein Neuberlinerdie Stadt erleben kann

Tok, tok, tok. Das Geräusch kommt näher. Tok, tok, tok! Der Mörder mit dem Krückstock! Ich kann sein Schnaufen hören. Jetzt hat er meine Wohnungstür erreicht. Schweißgebadet schrecke ich hoch. Ein Albtraum. Es war nur unser fußkranker Postbote mit den Werbeprospekten.

Ich bin etwas ängstlich in letzter Zeit. Vielleicht sollte ich weniger Krimis lesen. Aber „Canitz’ Verlangen“ ist einfach zu spannend. In dem Thriller findet Hubert Canitz am Spreeufer eine Leiche und beginnt, sich nach dem Tod im Wasser zu sehnen. Faszinierend. Dabei kann ich mich mit Canitz nur bedingt identifizieren. In die Spree zu springen, wäre mir zu anstrengend. Der tägliche Überlebenskampf lastet mich voll aus.

Die Kampfhunde in meinem Haus sind lieb. Ungünstig ist nur, wenn Herrchen 1 mit seinem gerade die Treppe hochkommt, während Herrchen 2 mit seinem aus der Wohnungstür tritt und man selbst irgendwo dazwischensteht. Neulich floh ich in einen Coiffeursalon in der Nähe. Man legte mir einen Plastikumhang mit Leopardenfellmuster über die Schultern. In Zürich geht man in solchen Klamotten auf dubiose Fetischpartys, dachte ich beunruhigt. „Nicht allzu kurz!“, bat ich. Der Frisör nickte. Ich erzählte von meinem Muttermal an der Kopfhaut. Er möge bitte vorsichtig sein. Mit seinen schweren Händen teilte er meine Haare und begutachtete den Leberfleck. „Kannsdu nich wegmachen?“, fragte er. „Kriegst du Krebs von!“

Dann begann er, meine Haare kurz und klein zu schneiden. Ständig wurde er unterbrochen. Männer kamen herein, überreichten ihm bündelweise Geldscheine, verhandelten in einer fremden Sprache mit ihm. Ob er ihnen meine inneren Organe verkaufte? Plötzlich entzündete der Frisör eine Fackel und führte sie an mein rechtes Ohr. Ich schrie auf. Er lachte. „Alte Tradition bei uns“, erklärte er. Um die Ohrhaare abzufackeln. Einfach in die Spree abtauchen, dachte ich. Vielleicht wäre das doch einen Versuch wert. Till Hein

Haarsträubend wie Neukölln: Zora del Buono: „Canitz’ Verlangen“, 18 Euro.

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