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Kultur: Was machen wir heute?: An den Zähnen rütteln

Mann, wie die Zeit vergeht; ein Jahr ist ruckzuck um, meine ich. Quatsch, Mama, meint Charlotte, ein Jahr dauert gaaaaaanz lange.

Mann, wie die Zeit vergeht; ein Jahr ist ruckzuck um, meine ich. Quatsch, Mama, meint Charlotte, ein Jahr dauert gaaaaaanz lange. In diesem Punkt werden meine Tochter und ich frühestens in 30 Jahren Einigkeit erzielen. Die Wahrnehmung der Zeit ist eine Sache des Alters.

Ein Kind macht die Eckpfeiler zur zeitlichen Orientierung vor allem an bestimmten, im jährlichen Rhythmus wiederkehrenden Ereignissen fest, die einen Höhepunkt in seinem Kalender markieren. Weihnachten und Geburtstag sind die herausragenden Events, mit einigem Abstand folgen Ostern, Nikolaus und vielleicht noch Karneval. Wenn Weihnachten gerade vorbei und ein Herzenswunsch offen ist, dann dauert es eben verdammt lange, bis der Weihnachtsmann wieder kommt. Dazwischen heißt es warten, warten, warten. Im Jahresplan von uns Erwachsenen spielen diese Ereignisse nicht mehr eine so große Rolle; uns reicht doch schon die Aussicht aufs Wochenende. Das kehrt naturgemäß in bedeutend kürzeren Intervallen wieder.

Ein Gutes haben Weihnachten und Geburtstag wenigstens. Sie sind Konstanten. Man kann sich auf sie verlassen, ihr Datum steht fest, immer. Bei anderen Ereignissen hingegen weiß man nicht genau, wann sie eintreffen werden. Das erhöht die Spannung ungemein und macht das Ausharren beinahe unerträglich. Das Ausfallen des ersten Milchzahns ist so ein Meilenstein im kindlichen Größerwerdungsprozess. Charlotte kann es kaum aushalten, bis es so weit ist. Zumal sie verglichen mit den Freundinnen das Gefühl hat, ziemlich spät dran zu sein. Die anderen haben schon die erste Wackelzahnphase hinter sich gebracht und blecken stolz ihre neuen, großen Bugs-Bunny-Zähne. Auf die schaut mein Kind voll Neid und fühlt sich manchmal ganz klein mit seinen weißen Milchzahn-Perlchen. Aber jetzt ist es passiert. Vorne im Mund wackelt es. Zuerst nur ganz wenig, aber inzwischen kann man es schon richtig fühlen, wenn die Finger die beiden unteren Schneidezähne hin- und herruckeln. Bis sie ausfallen dauert es allerdings noch ein Weilchen. Charlotte macht trotzdem im Minutentakt die Rüttelprobe, manchmal muss auch ich ran. Es könnte doch sein, dass ich mich täusche.

Den lang ersehnten Augenblick will sie keinesfalls verpassen. Das darauf folgende Procedere steht längst fest. Der Zahn wird am Abend unters Kopfkissen gelegt. In der Nacht kommt dann die Zahnfee, diese neumodische, aus Amerika stammende Erscheinung, und bringt ein kleines Geschenk. Charlotte hat sehr genaue Vorstellungen, was es sein soll. Das "Milchzahnbuch" nämlich mit einem kleinen Täschchen, in dem die ausgefallenen Zähne gesammelt werden können. Das Buch ist ein Muss. Anna, die beste Freundin, hat es nämlich auch bekommen. Ein Video wäre aber auch nicht schlecht, vielleicht noch eine Kassette, was von baby born oder ...

Zumindest den Buchwunsch werde ich auf jeden Fall an die Zahnfee herantragen, das lange Warten soll nicht umsonst gewesen sein.

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