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Was machen wir heute?: Auf der Strecke bleiben

Wie ein West-Berliner die Stadt erleben kann: Indem er bei "Blaesche" einkauft.

Fahre ich mit der U-Bahn, sitze ich als Gewohnheitstier nie im ersten Wagen, dafür gern im zweiten oder dritten. Wenn der Zug auf der U3 ab Krumme Lanke mitten in der Ladenstraße des Bahnhofs Onkel Toms Hütte hält, schaue ich stets von einem der vorderen Zugfenster aufs Radio- und Fernsehgeschäft „Blaesche“ und seine altmodisch rührend überschaubare Auslage. Dann fallen mir immer die großen Fachmärkte ein, in denen das Angebot so groß ist, es aber oft so lähmend lange dauern kann, bis die Bedienung ansprechbar ist. Bei Blaesche mit den paar Geräten käme ich sofort ran. Den nächsten Fernseher, das nächste Radio kaufe ich dort, habe ich mir oft geschworen. Am letzten Sonnabend, als die Ladenstraße zum bescheidenen Ladenstraßenfest einlädt, steige ich endlich einmal aus, finde die Läden beiderseits des Bahnsteigs sympathisch und hole mir süßen Proviant aus der Confiserie Rose. Dann steuere ich auf Blaesche zu, um mir zumindest die Auslage einmal genauer anzusehen. Oje. Am Schaufenster kündigt Inhaber Frank Michel die Aufgabe des fast 50 Jahre alten Geschäfts zum Monatsende an. Betreten trete ich ein. Die Leute, klagt der Händler, kaufen sich Geräte in den großen Märkten, und bei technischen Problemen erinnern sie sich an das kleine Geschäft, lassen sich beraten, lassen reparieren. Davon allein aber lässt sich nicht leben. Der Mann ist traurig. Jetzt, sagt er, kommen die Leute, die nie bei ihm gekauft haben, plötzlich herein und versichern, dass auch sie traurig sind über das Ende. Andere gehen vorbei und winken, als wollten sie Mut zusprechen. Ich bin beschämt, schaue auf die letzten Fernseher, die Kartons, die fast leeren Regale mit letzten CDs und denke über verpasste Chancen nach. Der Händler tröstet mich und sagt, er habe ja noch einen Laden mit Werkstatt am Breitenbachplatz. Er bleibt auf der Strecke. Denn auch dort hält die U-Bahnlinie 3. Christian van Lessen

Die Ladenstraße im Zehlendorfer U-Bahnhof Onkel Toms Hütte, Anfang der dreißiger Jahre eröffnet, ist ein architektonisches Unikum und steht unter Denkmalschutz.

Christian van Lessen

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