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Kultur: Was machen wir heute?: Einen Baum kaufen

Auch wir kaufen den Weihnachtsbaum immer am letzten Tag. Dann gehen wir, das Kind und ich, zum nächstgelegenen Weihnachtsbaumhändler, dessen Bestände schon stark ausgedünnt sind.

Auch wir kaufen den Weihnachtsbaum immer am letzten Tag. Dann gehen wir, das Kind und ich, zum nächstgelegenen Weihnachtsbaumhändler, dessen Bestände schon stark ausgedünnt sind. Wir deuten auf eine picklige Nordmanntanne mit galoppierender Astschwindsucht oder auf eine hyperventilierende Gelbkiefer - schwerer Fall von Borkengicht, Pflegestufe 2 - oder auf eine grämliche Blaufichte mit ekligem Schorf und Eiterbeulen und Klumpfüßen mit Blaufichtenfußpilz. Denn allzu wählerisch darf man am letzten Tag nicht mehr sein. Wir bieten diesen von der Natur benachteiligten Wesen ein warmes Heim, wir schmücken und hegen sie, als seien sie Prinzessinnen. Wir sind das Asyl für die Verachteten und Entrechteten unter den Weihnachtsbäumen.

Unseren Baum tragen wir liebevoll nach Hause, vorne trägt der Vater, hinten trägt das Kind. Der Baum ächzt und jammert, weil er denkt, es geht zur Brennholzpresserei. Es läuft Eiter und Schmodder und Schlimmeres aus ihm heraus und über unsere Hände, er riecht übel und wirft milbenübersäte Nadeln ab, und aus der Krone heraus sabbert er panisch. "Armer, kranker Baum", sagt das Kind, "bald geht es dir besser."

Zu Hause wird der Baum erst mal warm geduscht, denn wir haben einen Warmduscherhaushalt. Dann fönen wir ihn trocken und verbinden seine Wunden mit Moltofill, und er kriegt eine warme Hühnersuppe. Der Baum sieht jetzt tatsächlich etwas besser aus. "Das Leben kann schön sein, Baum", sage ich, der Baum grunzt zustimmend. Wir schmücken ihn, wie der Brauch es gebietet. Wir tanzen um ihn herum. Wir singen mit ihm. "Du bist hier der Star! Du heißt Madonna!", ruft das Kind, damit der Baum wieder ein bisschen Selbstbewusstsein tankt. Er ist immer noch krumm und schrundig und hat fast keine Nadeln, durch das Moltofill sickert gelblich der Eiter. Andere Familien mögen prächtige Weihnachtsbäume besitzen, stramme stiernackige Geschöpfe, bei denen die Besucher "Heureka!" rufen. Ich beneide diese Leute nicht. Es sind Spießer. Unser Baum ist dankbar. Er gibt uns so viel.

Auf diese Weise vergehen die Weihnachtstage. Der Baum nimmt an Gewicht zu, es wachsen ihm Nadeln, er beginnt appetitlich zu duften. Gleichzeitig wird er allerdings in seinem Wesen fordernder. Morgens ruft der Baum mit knarziger Stimme: "Wasser!" Am Wochenende verlangt er, am Potsdamer Platz spazieren getragen zu werden, abends schaut er mit offensichtlichem erotischen Interesse Gabi Bauer und die "Tagesthemen". Nie beteiligt er sich an den Hausarbeiten, Geschirrabtrocknen lehnt er ab. Irgendwann Anfang Januar wird uns der Baum zu unverschämt und zu lästig. Dann kippen wir ihn aus dem Fenster, die Müllabfuhr holt ihn ab. Sein Leben war kurz. Aber es war erfüllt, zeitweise wurde er sogar geliebt. So, und jetzt gehen wir wieder mal los, das Kind und ich, kurz, bevor die letzten Baum-Händler zu machen. Irgendwo da draußen wartet ein hoffnungsloser Fall. Vorher setzen wir noch die Hühnersuppe auf.

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