zum Hauptinhalt

Kultur: Was machen wir heute?: Marzahn erleben

Eigentlich braucht man sich Marzahn ja gar nicht mehr anzuschauen. Mittlerweile scheint auch so jeder eine Ahnung davon zu haben, wie es dort aussieht: graue Plattentristesse, keine Kneipen, Jugendgangs, Leerstand.

Eigentlich braucht man sich Marzahn ja gar nicht mehr anzuschauen. Mittlerweile scheint auch so jeder eine Ahnung davon zu haben, wie es dort aussieht: graue Plattentristesse, keine Kneipen, Jugendgangs, Leerstand. Ein Ghetto. Alle, die können, ziehen weg, heißt es.

Gut, nun hatte auch ich nicht gerade die Vorstellung, Marzahn habe eine hohe Cappuccinodichte oder sei einer der schönsten Bezirke Berlins. Aber spätestens seit dem Film "Alaska.de", der als "schonungslos offen" und als ein "realistisches Porträt" bezeichnet wird, habe ich mich gefragt, ob Marzahn wirklich nur noch aus verfallenen Häusern und eingeschlagenen Fenstern besteht. Schließlich war das früher nicht so.

Also habe ich zuerst mit Freunden gesprochen. Zugegeben, selbst habe ich seit zehn Jahren keinen Fuß mehr in diesen Stadtbezirk gesetzt. Aber auch die Freunde waren seit der Wende nicht mehr dort, was einerseits Erstaunen hervor- und andererseits Erinnerung wachrief. Zum Beispiel stellte ein Bekannter von mir fest, dass er seit 1989 keinen Sex mehr in der Platte hatte. Denn nicht nur er wohnt jetzt in einem Gründerzeitbau in Prenzlauer Berg. Anderen fielen nur noch die Namen der Neubau-Clubs ein, in denen sie sich zu Ostzeiten die Nächte um die Ohren schlugen: Storchennest, Feuerwache, Rotkamp. Aber keiner wusste, wie Marzahn heute ist. Ganz so, als wäre dieser Bezirk zusammen mit der DDR von der Landkarte verschwunden.

Deshalb habe ich mich letzte Woche in die S-Bahn gesetzt und bin hingefahren. Das große Abenteuer begann in Springpfuhl. Plattenbauten links, Plattenbauten rechts. So wie man es sich vorgestellt hat. Nur sah diese Gegend gar nicht wie ein Ghetto aus. Im Gegenteil. Die Häuser waren größtenteils saniert, die Wohnhöfe familienfreundlich gestaltet, neue Bäume angepflanzt. Ich sah Kinder, Rentner, Ehepaare. Hätte mir jemand gesagt, ich sei im friedlichsten Bezirk Berlins angelangt, hätte ich es sofort geglaubt. Zwei Stunden spazierte ich kreuz und quer durch die Platte, am Helene-Weigel-Platz vorbei, über einen Obst- und Gemüsemarkt, auf dem es Spreewälder Gurken gab, weiter zur Marzahner Mühle. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als Marzahn noch ein Dorf war und vermutlich die einzige Windmühle in Berlin, in der ein Müller eigens vom Bezirksamt eingestellt wurde, um Besichtigungen durchzuführen. Schließlich landete ich noch am Freizeit Forum in der Marzahner Promenade. Hier vergnügten sich gerade die Anwohner beim Sport, in der Schwimmhalle und in der Sauna, saßen im Klub oder in der Gaststätte.

Das alles machte auf mich den Eindruck eines reichlich unaufgeregten Marzahner Alltags. Und hatte mit den bekannten Vorstellungen nichts gemein. Klischees scheinen manchmal einfach nur dafür da zu sein, den Menschen zu entlasten. Sie halten einen nämlich davon ab, sich selbst ein Bild zu machen. Am Besten ist, man hört gar nicht mehr hin. Man hole sich lieber ein Vier-Mark-Ticket und fahre damit nach Springpfuhl.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false