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Kultur: Wasserspiele, Feuerbilder: Der Tränenmann bleibt sitzen - Musiktheater in Frankfurt am Main

Als wir eintreten dürfen, sitzt einer schon da, am Rande eines flachen Beckens, das kaschierte Bodenplatten vierseitig eingrenzen, in seinem Rücken das Ensemble Modern, vor sich angeschrägte Spiegelwände und zu seiner Rechten auf der Publikumstribüne: uns. Und zu seiner Linken, uns gegenüber, eine Gegentribüne, der unseren ganz gleich, nur leer.

Als wir eintreten dürfen, sitzt einer schon da, am Rande eines flachen Beckens, das kaschierte Bodenplatten vierseitig eingrenzen, in seinem Rücken das Ensemble Modern, vor sich angeschrägte Spiegelwände und zu seiner Rechten auf der Publikumstribüne: uns. Und zu seiner Linken, uns gegenüber, eine Gegentribüne, der unseren ganz gleich, nur leer. So also sieht es aus, wenn wir nicht da sind. Vielleicht wartet er auf Wasser? Die auftretenden Spieler stören ihn nicht, und er stört nicht die Spieler, eine siebenköpfige Gruppe mit Schirm und Melone, ein Tänzerpaar, einige Statisten auf der Gegentribüne und einer, der in die Mitte tritt und mit dessen Klagen, von Holzbläsern intoniert, endlich das eigentliche, das musikalische Geschehen einsetzt.

Der Komponist Guo Wenjing, 1956 in Sezuan geboren, ist heute einer der führenden zeitgenössischen Komponisten Chinas. Seine Kammeroper "Wolf Cub Village" wurde 1994 beim Holland Festival in Amsterdam uraufgeführt, und ihre deutsche Erstaufführung ist das eigentliche Ereignis des Abends im Bockenheimer Depot, mit dem die Frankfurter Oper ihr Projekt "Klangfiguren 2000 - 2004", ein Zyklus mit Werken des modernen Musiktheaters, fortsetzt. Auf instrumentale und vokale Klagen und Weherufe scheint die Musik der ganzen Oper gegründet; es sind die Klagen und Weherufe eines Madman, eines Wahnsinnigen, der glaubt, unter Menschenfressern zu leben, und den jene für wahnsinnig halten, die er für Menschenfresser hält. Dabei könnte all sein irres Stammeln kaum Wirkung entfalten, würde es nicht von klaren musikalischen Strukturen und Formen gehalten. Sie erst bewirken die suggestive Eskalation des musikalischen Geschehens in einem orchestralen Aufschrei, einem großen Ausbruch des Madman, welcher den Kern der Parabel des großen chinesischen Dichters Lu Xun freilegt. "Du musst aufschreien, nur dann gibt es noch Hoffnung", beschreibt der Komponist Guo Wenjing den Appell des Dichters. Dann verlieren sich Musik wie Hauptfiguren, Madman (Peter Marsh), sein älterer Bruder (Johannes M. Kösters), der Arzt Dr. He (Jacques Does) und ein Mädchen (Deborah Lynn Cole) in öde Weite, ein tröstlicher und resignativer Schluss zugleich. Wo aber Geheimnis komponiert ist, da geheimnissen Regisseurin Rosamund Gilmore und Bühnen- und Kostümbildner Carl Friedrich Oberle nur gefällig herum. Das sieht ein wenig nach Chinoiserie, ein wenig nach Magritte aus. Vor der realen Musikproduktion, dem Gesang des bis ins letzte Detail studierten Ensembles und natürlich dem Spiel des Ensemble Modern unter der Leitung von Ed Spanjaard, laufen die Bilder der Inszenierung einfach nur ab und leer. Die Säcke, die der Madmann mit Sand zu füllen hat, können dem hereinquellenden Wasser doch nicht wehren. Die Dörfler ertrinken, und Regen fällt.

Seinen Auftritt hatte dann das blind geborene Kollektiv Maurice Maeterlincks, dessen Bühnendichtung "Die Blinden" Beat Furrer, 1954 in der Schweiz geboren und heute in Österreich lehrend, 1989 seinem "Musiktheater in zwölf Bildern" zugrunde legte. Dazu hatten wir nach der Pause die Gegentribüne zu besetzen. Der da schon immer saß, ihm steht jetzt das Wasser in den Halbschuhen, und vielleicht ist er ja der gestorbene Führer der Blinden, ein "Tränenmann" (Martin Georgi), wie er im Programmheft steht. Die Blinden sind wohl die Statisten von vorhin, und das Tanzpaar ruckelt in Rückenlage durch die Szene, Wartezimmerstühle stehen nutzlos am und im Wasser. Ist es nun der Inszenierung oder gar der Komposition selbst zuzuschreiben, dass sich mit fortlaufender Zeit der Eindruck verdichtet, Beat Furrers "Musiktheater" braucht das Theater eigentlich gar nicht, die Szene ist fakultativ? Seiner arg ausgewalzten Dornbuschszene ist nicht anzuhören, ob und welche neuen Dimensionen dem stark gekürzten Text Maeterlincks abgerungen worden sind, dem Furrer Platons Höhlengleichnis sowie Passagen aus Hölderlins "Patmos" und Rimbauds "Höllennacht" implantiert hat. Und der Inszenierung ist nicht anzusehen, ob da vielleicht außer allgemeinem Warten und Philosophieren musikalisch irgendetwas vorgehen könnte, das auf szenische Übersetzung wartet. Gewiß liegen Welten zwischen einem inszenatorischen Dilettantismus, der vor einigen Monaten an der Frankfurter Oper die gründliche musikalische Arbeit an Adriana Hölszkys Oper "Die Wände" zunichte machte, und der professionellen Regiearbeit Rosamund Gilmores. Warum aber gleichen sich die Nichtinszenierung von vorvorgestern und die Inszenierung von heute so sehr in der Vorhersehbarkeit ihrer Bilder? Was auch passieren mag, der Tränenmann bleibt sitzen. Von ganz fern schwebt eine Frau (Gudrun Pelker) über die Stuhlreihen der Gegentribüne hinweg auf uns zu, Rimbaud auf den Lippen. Unter ihr fangen einige der Sitze Feuer. "Das ist das Feuer, das aufflammt mit seinen Verdammten." Wie gut, dass wir bereits in der Pause die Seiten gewechselt hatten.

Jens Knorr

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