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Kultur: Weine nur, wenn der Regen fällt

Kai Müller enthüllt das Geheimnis von Männertränen

Man kann sich, als Mann, bald nicht mehr öffentlich zeigen, ohne zu heulen. Erst Schröders Abschiedstränen, dann Eichels Wiedergutmachungstränen und jetzt auch noch Kerners Dankestränen. Eine Welle der Rührung schwappt durchs Land und zerstört alte Gewissheiten: Indianer kennen keinen Schmerz; was nicht tötet, härtet ab; Männer weinen nur im Regen. Nun offenbaren sich die Machtmenschen der Republik als Rührstücke. Etwas mühsam Unterdrücktes bricht sich Bahn, fließend ist die Grenze vom Macho zum Softie.

Es heißt ja, dass weinende Männer bei Frauen große Sympathien wecken. Von Opfer zu Opfer gewissermaßen. Im Schmerz vereint. Als Gerhard Schröder vor Gewerkschaftern in Hannover seinen Rückzug aus der Politik erklärte, stand er ja wirklich vor einem Grab. Seinem eigenen, politischen. Hans Eichel, der Vielgeprügelte, der so gerne den Bundeshaushalt saniert hätte, aber man ließ ihn nicht, bebte am ganzen Köper vor Rührung ob des Abschiedslobes seiner Parteitagskollegen – auch eine Art Kranzniederlegung. Schließlich Moderator Johannes B. Kerner, der bei der „Bambi“-Verleihung seine Tränen nicht zurückhalten konnte. Sein Schwiegervater sei an dem Tag gestorben, sagte er, an dem er seine nun ausgezeichnete Sendung moderiert habe. Okay. Ja. Das ist hart. Wahrscheinlich wird er sich als nächstes in seiner Talkshow selbst interviewen.

Handelt es sich um Fälle von raffinierter Autosuggestion? Männertränen sagen auch: So viel habe ich gegeben, mehr als jeder weiß. So hart bin gegen mich selbst gewesen – für euch. Auch Schröder war von sich selbst überwältigt, als er den Gewerkschaftskumpels gestand, „ich möchte gern unter euch bleiben“. Er sagte dann noch, er wisse, wo er herkomme und wo er hingehöre. Was uns dem Geheimnis um die Heulsusenschwemme unter Deutschlands Elitemännern näher bringt. Sprach der Möchte-Bleiben-Kanzler doch just die größte Lüge aus, an die er selbst glaubte. Einer von euch, das war Schröder längst nicht mehr. Er wusste das – und es zerriss ihn innerlich. Schon Petrus „ging hinaus und weinte bitterlich“, nachdem er – wie prophezeit – Jesus drei Mal verleugnet hatte. Narziss schämt sich: die Urszene aller Kränkungsrituale. Nichts ist so süß wie die Tränen, mit denen man sich selbst vergibt.

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