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Deutschsprachige Literatur: Welsche und Wahre

Kampfplatz Südtirol: Sabine Gruber durchquert in ihrem vierten Roman "Stillbach oder Die Sehnsucht" das 20. Jahrhundert.

Je kleiner die Region, desto stärker die Sehnsucht nach Aufbruch, behauptete der österreichische Germanist Wendelin Schmidt-Dengler einmal und attestierte der zwischen Deutsch, Italienisch und Ladinisch changierenden Südtiroler Literatur das Potenzial, die „nationalliterarische Enge“ zu überwinden. Zur Südtiroler Literatur im engeren Sinne gehört Sabine Grubers vierter Roman „Stillbach oder Die Sehnsucht“ gewiss nicht. Doch er gibt der kulturell immer noch umkämpften Region ein Gesicht – und ihrer Geschichte im 20. Jahrhundert Figuren.

„Allmählich verliert sich die dunkle Farbe des eisenhaltigen Gesteins, die Berge werden heller über den mit grünen und grauen Netzen überzogenen Apfelplantagen“, entdeckt Clara, eine der drei weiblichen Hauptfiguren, und es scheint ihr, „als steuere ein Schiff auf eine grüne Bucht zu, die von hellen, schroff aufsteigenden Bergen umschlossen war. Die Apfelbäume wurden spärlicher, die Häuser ärmlicher und leichter; die Geländer an den Balkonen bestanden nicht mehr aus Holzlatten, sondern aus schmiedeeisernen Stäben.“

Nicht nur die Auskleidung der Balkone unterscheidet sich in „Stillbach“, dem Sehnsuchtsort des Romans, vom jenseitigen Italien. Während die „Welschen“ ihre Intimwäsche bedenkenlos in aller Öffentlichkeit ausstellen, wird sie in Stillbach in den Hinterhöfen getrocknet. „Zu Hause in Stillbach räumte man mit dem Elend auf und ließ keinen Gestank zu.“ Deshalb waren die überschüssigen Mädchen aus dem Südtiroler Land auch begehrt in den besser situierten italienischen Haushalten und Hotels. Ihnen eilte der Ruf voraus, „pünktlich, sauber, fleißig“ zu sein.

Emma Manente, die zweite Protagonistin, ist so eine junge Frau, die ihre Salurner Klause hinter sich lässt, um „im eigenen fremden Land“ ihr Brot zu verdienen. „Dass du mir ja keinen von denen da unten nach Hause bringst“, hatte ihr die Mutter aufgetragen, denn obwohl in Stillbach „alles mindestens aus zwei Richtungen kommt“, sind die Italiener nicht gelitten. Emma kommt als Dienstmädchen nach Venedig und schließlich nach Rom in das Hotel der Manentes, wo sie vom Sohn des Hauses geschwängert und gegen jedes Klischee auch geheiratet wird.

Eigentlich war Emma mit Johann verlobt, einem Stillbacher, der nach dem Einmarsch der Deutschen nach Rom abkommandiert wird. Bei dem Anschlag auf ein deutsches Polizeikorps 1944 in der Via Rasella kommt er ums Leben. Die Deutschen rächen ihn mit dem berüchtigten Massaker in den Ardeatinischen Höhlen. Spätestens jetzt haben die Daheimgebliebenen kein Verständnis mehr dafür, dass Emma in Rom bleibt. Von der Familie ausgegrenzt und von ihrer italienischen Umgebung misstrauisch beäugt, zehren an Emma die Sehnsucht nach Stillbach und das Trauma der Ereignisse von 1944.

Ihr Schicksal, das in die historischen Wechselfälle des Zank- und Haderlandes Südtirol eingebunden ist, wird überliefert in einem hinterlassenen Romanmanuskript von Ines, der dritten Hauptfigur. 1978 hat sie selbst als Hausmädchen im Hotel der Manentes gearbeitet; just zu der Zeit, als der christdemokratische Staatschef Aldo Moro entführt wurde und die italienischen Frauen sich radikalisierten.

Nach Ines’ plötzlichem Tod reist Jugendfreundin Clara nach Rom, um den Nachlass zu ordnen. Ihre Begegnung mit Ines’ Erinnerungen und dem Stadtführer Paul, selbst ein „Berufserinnerer“, führt sie immer tiefer in die Italianisierung Südtirols, den alltäglichen Faschismus unter Mussolini und die Selbstentlastung der Italiener nach der deutschen Besetzung, schließlich die Gewaltexzesse der siebziger Jahre.

In der komplizierten Struktur, mit der Sabine Gruber, 1963 in Meran geboren und heute in Wien zu Hause, Emmas und Ines’ Geschichte als eigenen Roman in eine Rahmenhandlung einbettet, scheint leitmotivisch das „Bodenmuster“ auf, für das der Steinsetzer die Steine zusammensucht. Unverkennbar ist dabei die Dramatikerin Gruber am Werk, die die detailreich recherchierten Ereignisse in den Dialogen ihrer Figuren auf die Bühne hebt. Obgleich sie mitunter sehr weit ausholt und sich in Petitessen und Nebenschauplätzen verliert, gelingt es ihr, die politische Gemengelage auf die Wahrnehmung und Erlebensweise der „kleinen Leute“ zu reduzieren. Das von Ines und Clara hinterlassene „Brennholz für die Erinnerung“ ist überaus bildmächtig, eine „Wolkensprache“, die „ohne Rückzug nicht zu haben ist“ – und nicht ohne Einfühlung in Menschen, die wie Gruber zwischen den Faltenwürfen der Berge aufgewachsen sind.

Für Clara wird die Reise nach Rom zu einem „Sinkflug“: „Man ließ nicht alles liegen und stehen, vererbte nicht einen Berg von Fragen“, mahnt sie die tote Freundin. Denn in Ines’ unvollendetem Roman, bleibt vieles offen: etwa ihr Doppelleben, ob der in eigener Sache erinnerungslose Paul tatsächlich mit ihr liiert war, weshalb sie starb – und weshalb sich Sabine Gruber selbst eine Statistenrolle einräumt. Die wichtigste Frage – warum Emma in Rom blieb – wird immerhin beantwortet.

Sabine Gruber: Stillbach oder Die Sehnsucht. Roman. Verlag C.H. Beck, München 2011. 379 Seiten, 19,95 €.

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