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Kultur: Welt der Dinge

Nach 100 Tagen geht die 13. Documenta zu Ende.

Kaum zu hören, das Streichquartett am Ende des Bahnsteigs. Versprengte Töne, 1943 in Theresienstadt komponiert, vom Wind gezaust und von ratternden Zügen. Die Schottin Susan Philipsz installierte diese Musik im Kasseler Kulturbahnhof just dort, wo die Juden der Region in die Konzentrationslager abtransportiert wurden. Die Lautsprecher? Unmöglich zu orten. Man spähte umher, spitzte die Ohren.

Das war die 13. Documenta: zarte, poetische, sinnliche, gefährdete, kriegsversehrte, politische Kunst, aus der Nazi Zeit genauso wie aus Kambodscha, Afghanistan oder Ägypten. An diesem Sonntag geht die Weltkunstausstellung zu Ende, mit Rekordteilnehmerzahlen seitens der Künstler und gewiss auch der Besucher. Seit der Eröffnung vor 100 Tagen wurde viel geschrieben über den Animismus und Ökofeminismus ihrer Chefin Carolyn Christov-Bakargiev, über die Artenvielfalt der Schau einschließlich Zoologie, Astronomie, Computertechnik und Quantenphysik, über die Beziehung des Menschen zur Dingwelt, wie sie keine andere Documenta zuvor erkundet hat.

Thomas Bayrles betende Automotoren. Lara Favarettos sorgsam arrangierter Schrotthaufen am Bahnhof. William Kentridges Videoarbeit über die flüchtige, aber unerbittliche Zeit, von der sich der Mensch nur tanzend befreien kann. Der Märchenwald der Karlsaue mit den magischen Kunsthütten und Giuseppe Penones Bronze-Baum. Die baktrischen Prinzessinnen, zauberhafte Ton-Miniaturen, die über 4000 Jahre Krieg und Terror in Afghanistan überlebten. Der alte Kalifornier Llyn Foulkes, der mit Einmann-Musikmaschine samt Autohupen, Gummischlauch-Saxofon und brüchiger Stimme verschmitzte Anti-Hollywood-Songs zum Besten gab. Das Hugenottenhaus als Künstler-WG mit Sperrmüll aus dem schwarzen Chicago und wilden Jazzabenden – all das waren Publikumslieblinge. Aber auch die Daumenkinos von Rabih Mroué, der dem Besucher auf diese Weise Handyvideobilder von Todesopfern der arabischen Unruhen überantwortete.

Kunst ist Expedition, konstatierte diese Documenta, die freundlichste in der Geschichte der Schau: ist spielerische Aneignung und Errettung der Welt, Schönheit und Schrecken, Manifest und Magie, Geheimnis und Empathie. EU-Kommissionspräsident Barroso, der am Samstag noch schnell in Kassel war, sagte dort: „Ein allein galoppierendes Pferd macht nicht genug Staub, wir brauchen die Zusammenarbeit.“ Nie zuvor kamen so viele junge Leute und Familien mit Kindern. Gut, es gab auch Kitsch, Naturmystik, Wellnesskunst. Aber es ist wie bei der ArchitekturBiennale in Venedig: Die Kreativen sagen nicht mehr, wir sind die Stars. Sie sagen, mal sehen, ob wir in dieser Krisenzeit etwas dazu beitragen können, dass die Erde bewohnbarer wird. Christiane Peitz

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