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Kultur: Wenn Frauen flüstern

Familiengeheimnisse: Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun schreibt eine andere deutsche Geschichte

Das Spiel ist bekannt: Jemand beugt sich vor, schiebt sanft die Haare seines Nachbarn beiseite, legt die Hände wie einen Trichter um dessen Ohr und flüstert etwas hinein. Vielleicht „Heibaudi“? Oder besser noch: „Kanarien-Vögelchens-Züngelchens-Süppchen“. Das Spiel „Stille Post“ braucht Zungenbrecher. Mit Spannung erwartet man, ob (und wenn wie) sich die Anfangsphrase im Ende erhalten oder gewandelt hat. Das Transportgeheimnis des Flüsterspiels enthüllt die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun bereits auf den ersten Seiten ihrer Familiengeschichte „Stille Post“: Man flüstert zwar weiter, was man hört, aber man hört nur, was man hören will – oder hören kann. Das gilt auch für Geschichtsschreibung.

Christina von Braun, Filmemacherin, Buchautorin, Professorin, die an der Berliner Humboldt-Universität in den neunziger Jahren die Gender Studies mitbegründete, erzählt, wie es im Untertitel heißt, eine „andere Familiengeschichte“: Aspekte der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Sicht von Frauen. Gleichzeitig erforscht sie, wie Familiengedächtnis funktioniert. Am Beginn der Stille-Post-Kette steht die Großmutter, Hildegard Magris, eine Selfmade-Frau der Weimarer Republik: Sie, die nach dem Ersten Weltkrieg mit ihren beiden Kindern Hans und Hilde als Kriegerwitwe vor dem Nichts steht, entwirft – anfangs auf Kohlepapierdurchschlägen – Haushalttips für die moderne Frau, die das Hausfrauendasein fliehen will. Magris’ Ratschläge über Brauchbarkeit und Haltbarkeit einzelner Produkte waren heiß begehrt, und ihr Unternehmen „Heibaudi“ (Hauswirtschaftlicher Einkaufs-, Beratungs-, und Auskunftsdienst) florierte in den 1920er Jahren mit Ratgeber-Buchreihen, Kochschulen und Familienberatungen.

Regelmäßig stieg sie bei ihren Amerikareisen im Waldorf-Astoria ab. Die Erfolgsgeschichte der Hildegard Magris war nach 1933 Vergangenheit. Sie hatte jüdische Vorfahren (was nicht herauskam) und ein anderes Frauenbild als die Nazis. 1936 brachte sie, die Erfahrung des Ersten Weltkriegs im Hinterkopf, ihren Sohn Hans außer Landes in Sicherheit, Tochter Hilde heiratete Anfang der 1940er Jahre im fernen Afrika den Diplomaten Sigismund von Braun, der 1944 nach Rom versetzt wurde, wo er mit seiner Familie kurz vor Kriegsende Asyl fand.

Doch Hildegard Magris überlebte nicht: Wegen ihrer Kontakte zu „illegalen Kommunisten“ und weil man sie verdächtigte, militärische Geheimnisse über Wernher von Brauns Arbeit weiterzugeben, verhaftete sie die Gestapo im September 1944. Am 30. September, zwölf Tage nach ihrer Verhaftung, starb sie im Frauengefängnis in der Barnimstraße.

Während Christina von Braun die Geschichte der Großmutter aus Archiven und aus den Erinnerungen von Hans und Hilde rekonstruiert, kann sie, um die Flüsterpost ihrer Mutter Hilde und ihrer Großmutter väterlicherseits, Emmy von Braun, zu überliefern, neben eigenen Erinnerungen auf Briefe und Tagebücher zurückgreifen. Sie vermitteln ein lebendiges Bild von den historischen Momenten und Bedrängnissen, berichten vom eingeschlossenen Leben der „Achsenfamilien“im Vatikan und vom dortigen Zusammenleben mit „Feinddiplomaten“, von Hilfsleistungen ihres Mannes für Nazigegner, von der Angst, als Kriegsverbrecher angeklagt zu werden, und vom Wissen um das privilegierte Leben inmitten des ritualisierten katholischen Alltags.

Anders Emmy von Braun, die zu gleicher Zeit auf ihrem Gutshof in Niederschlesiendas Kriegsende erlebte, und ihr Tagebuch den Dante-Vers „Ich weilte unter denen, die in der Schwebe sind“ als Titel voranstellte. Ihre Aufzeichnungen erzählen vom täglichen Rassismus und vom gespenstischen Weitermachen: Tiere füttern, Boden bestellen. „Von irgendeiner Trauer“, notiert Emmy von Braun am 5. Mai 1945, „ist nichts zu spüren“.

Statt der Männer der Familie (des Vaters und Diplomaten Sigismund von Braun, des Onkels und „Atompapstes“ Wernher von Braun, des ehemaligen Reichsernährungsministers Magnus von Braun) kommen bei Christina von Braun die Frauen zu Wort. Durch ihre Verflechtung von Dokumentation und eigener Reflektion hat sie die sehenden Sätze der beiden Frauen zusammengetragen und gleichzeitig die blinden Flecken nicht ausgespart, ohne – und das ist das Kunststück – jeden Ton der Besserwisserei.

Über die Taten der Deutschen entsetzen sich Emmy oder Hilde nirgends, diese Stille ist Teil der Flüsterpost, genauso wie die Suizidversuche der Mutter Hilde, genauso wie die beklemmende Szene der Verabschiedung des Diplomaten Ernst von Weizsäckers, der unter Zusicherung des freien Geleites 1946 als Zeuge zu den Nürnberger Prozessen abreist, genauso wie die unmögliche Liebesgeschichte der protestantischen Hilde mit dem katholischen Montsigniore. „Die Geschichte“, schreibt Christina von Braun, „wurde, bisher jedenfalls meistens von den Vätern an ihre Söhne weitergegeben. Bei den Frauen gelangte die Geschichte über die Psyche der Mütter in die nächste Generation und macht sich so in der Psyche der Töchter breit. Die Seele ist sehr viel aufnahmefähiger als ein dickes Buch – aber auch schwerer zu lesen.“ Christina von Braun hat diese „Erinnerungskette“ lesbar machen wollen. Und tatsächlich präsentiert die Autorin durch ihren vielstimmigen Ansatz Akteure und Aspekte der deutschen Geschichte, die wir alle schon zu kennen glaubten.

Da die Autorin weiß, daß auch sie nur hört, was sie hören kann, hat sie, das vorläufige Ende der Flüsterkette, in fiktiven Briefen an ihre Großmutter ihre eigene Biographie und ihre eigenen heutigen Wahrnehmungen mitreflektiert, zum Beispiel: „Die Sehnsüchte von Sigis, Hilde und Hans an das Berlin vor der NS Zeit müssen eine unauslöchliche Spur in mir hinterlassen haben, und die Spur bildet ein Teil der Stillen Post, die sie mir vererbt haben.“

Tatsächlich ist die Geschichte seit dem Fall der Mauer in Berlin erneut und anders zurückgekehrt in die Stadt, etwas von der kunstseidenen Sehnsucht nach „einem Glanz“, etwas vom damaligen Puls der Moderne ist spürbar geworden. Wenn also Christina von Braun, die mit Filmen über Antisemitismus, über Frauen in der Weimarer Zeit und vor allem mit ihrer großen und großartigen Studie über gestörte weibliche Lebensentwürfe („Nicht Ich. Logik, Lüge, Libido“) bekannt geworden ist, von den Lieben, Lügen und Geheimnissen ihrer Mutter Hilde erzählt, wird eine der zentralen Thesen des Buches deutlich: Die „Stille Post“ der Familiegeschichten, hat sich längst – mehr oder weniger still – in die Biographien der Nachgeborenen hineingeschrieben und prägt heute – mehr oder weniger offen – individuelles und kollektives Denken und Handeln.

Ob „Heibaudi“ oder „Kanarien-Vögelchens-Züngelchens-Süppchen“ – immer gab es beim Flüsterspiel jemanden, der aus der Reihe tanzte. Vielleicht, weil er das Zugeflüsterte nicht verstanden hatte und sich schämte, irgendein Gestammel weiterzugeben, vielleicht, weil die Laute, die man ihm ins Ohr geflüstert hatte, sich ihm zu etwas ganz neuem zusammenreimten? Mit derartiger Freiheit der eigenen Reflektion und Rezeption ist es Christina von Braun gelungen, im Familienporträt neben einem facettenreichen Bild der Zeit auch Aspekte einer „histoire secrète“ zu entwerfen.

Christina von Braun: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte. Propyläen Verlag, Berlin 2007. 420 Seiten, 22 €.

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