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Kultur: Wenn Frauen zu sehr leiden

Was geschah, nachdem Nora ihren Mann erschoss: Thomas Ostermeiers „Lulu“ an der Berliner Schaubühne mit Anne Tismer

Die Gräfin von Geschwitz, so etwas wie eine zentrale Randfigur, ist das Opfer eines jeden „Lulu“-Regisseurs – ob er Peter Zadek, Michael Thalheimer oder Thomas Ostermeier heißt. Immer geht es gegen die lesbische Dame von Welt, die sich bis zum Ende aller Wedekind’schen Akte für die angebetete Lulu aufopfert und zu Grunde richtet. Ostermeier nun, daran mag man die flache Anlage seiner Schaubühnen-„Lulu“ ermessen, lässt die unglückliche Figur vollends verkrüppeln. Eine bis zum Debilen reduzierte Schmachtende muss die Schauspielerin Ursina Lardi vorführen, weil: Wer ums Verrecken liebt, verdient es wohl nicht besser.

Lulu freilich liebt nicht. Nie. Frank Wedekind, zerrissen zwischen Pariser Libertinage und wilhelminisch-viktorianischer Prüderie, erschuf sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Kunstfigur der ungebundenen, freien, anarchischen Lust. Wedekinds „Monstretragödie“, die ursprünglich den ebenso mythenreichen wie zotigen Titel „Die Büchse der Pandora“ trug, könnte heute als überholt und erledigt abgetan werden. Und doch: „Lulu“ lockt die Theater immer wieder und gerade jetzt. Weil Frank Wedekinds Drama (in Überlänge) bietet, was es sonst nur im Kino gibt, Sex, Sex und nochmal Sex?!

Animiert vom großen Erfolg der „Nora“ glaubte Ostermeier vielleicht, in der „Lulu“ ein attraktives Sequel zu finden – was geschah, nachdem Nora (in der Version der Schaubühne) ihren Mann erschossen hat? Geht sie, aus Ibsens Verpuppungen befreit, weiter ihren Weg über männliche Leichen?

Nulu oder Lora: Die gefeierte Anne Tismer steht wieder einsam im Mittelpunkt. Das Schaubühnen-Spiel ist inzwischen derart auf sie zugeschnitten, als wäre Anne Tismer die Lead-Sängerin einer Rock-Band. (Sie greift hier tatsächlich mal zum Mikrofon, die Kylie Minogue vom Kurfürstendamm). Das Programm, das Anne Tismer als Lulu mit gewaltigem, bis an die Selbstverleugnung – und darüber hinaus – gehendem Körpereinsatz abspult, bringt die mutwillige Entzauberung der Heldin. Verschmierte Lippen, transparente Bluse, strähniges Haar, so räkelt sie sich anfangs im Maleratelier. Nicht schön, aber zu diesem Zeitpunkt noch herausfordernd, irritierend. Der Verfall der Lulu-Figur vollzieht sich blitzschnell. Bald wird Anne Tismer somnambul in sich einsinken und krächzend-nölig tönen wie ein Papagei, in unvorteilhafter Unterwäsche oder nackt, ein Bild des Elends, die Passion einer Frau, von der man nichts weiß.

Das ist hier die Gretchen-, vielmehr die „Lulu“-Frage: Wie hältst du’s mit der Erotik? Ostermeier weidet sich am Verfall. Was für die bemitleidenswerte Gräfin von Geschwitz gilt, trifft Anne Tismer doppelt und dreifach: Lust liegt, wenn überhaupt, in der Selbstzerstörung. Aber auch das ist natürlich bloß Behauptung. Man fragt sich, was um alles in der Welt die Männer an dieser geprügelten Kindfrau finden. Was haben die bloß alle? Sie sterben für Lulu wie die Fliegen: der alte Medizinalrat Goll, den Wolf Aniol leicht trottelig anlegt; der Kunstmaler Schwarz, der bei Thomas Bading so gar nichts Artistisch-Eingebildetes hat; schließlich Gerd Böckmann als „Chefredacteur“ und Morphinist Schöning, der als Schaubühnen-Gast ein wenig die Grandezza des alten Plüsch-Theaters mitbringt, das einer „Lulu“ nicht schadet. Aber das ist ein Nullsummenspiel. Männer, die keine rechten Kerle sind, reißen sich um eine Frau, die eines auf keinen Fall sein will, sein darf: eine begehrenswerte Frau.

Ostermeier ist heftigst um ein Frauenbild bemüht, das bloß nicht traditionellen Vorstellungen von einem Prachtweib entspricht. Also bleibt die „Büchse der Pandora“ verschlossen. Keinerlei Spannung, kein Kick. Statt dessen zupfen sich die Frauen an den nackten Brüsten, ein fürchterlich peinliches „Nipplegate“, und auch ein Typ zupft sich nachher am Zipfel. Das höchste der Gefühle in dieser verkehrberuhigten „Lulu“: Anne Tismer schlürft schlaffe Spargel, rein-raus. Da rutscht die überraschend traditionelle, texttreue Inszenierung in schlechtes Boulevardtheater ab.

Obenhin hat Jan Pappelbaum, der Bühnenbildner, ein Riesenplakat aus der wirklichen Werbewelt gehängt, die drei Grazien einer schwedischen Bekleidungskette, in der Mitte Supermodel Naomi Campbell. Es ist allzu deutlich. Diese „Lulu“ will sich an dem glamourösen Abziehbild der Sexy-Frau kritisch abarbeiten. Am Schluss kramt Jack the Ripper (Mark Waschke) eine H&M-Tüte hervor, packt einen blutigen Klumpen ein, den er der abgestochenen Lulu in aller Seelenruh’ zwischen den Beinen herausschnippelt. Der Ripper taucht übrigens schon ganz zu Anfang auf, wenn sich die Bühne rasend dreht und Lulus kurzes, bescheidenes Leben Revue passieren lässt. Die Sache geht schlimm aus, das ist nach drei Minuten klar.

Nach drei Stunden bleibt immer noch ungeklärt, wo diese „Lulu“ zu Hause ist. Ein bisschen Fin de Siècle, ein bisschen Zwanzigerjahre, ein bisschen Nazi-Halbwelt auch, à la „Cabaret“: Robert Beyer spielt alle Butler und Kellner dieser Aufführung, und ein nacktes, mysteriöses Teufelchen, das wuselig den Gräueltaten zuschaut. Ostermeiers „Lulu“ hat etwas schwer Deutsches, eine Untergangslust, einen Hässlichkeitskult, etwas (womöglich ungewollt) Hölzernes. Und Provinzielles. Sicher, Wedekind hat über lange Strecken Dialoge auf Französisch und Englisch geschrieben, das war einst vielleicht neu und provokant. Doch die Schaubühnen- Akteure spielen das so sklavisch nach, dass sich die gegenteilige Wirkung einstellt. Das Polyglotte klingt – bigott und aufgesetzt.

Und dann geht sie ab. Die geschundene Kreatur verlässt den Ort des Schreckens. Anne Tismer richtet sich auf, lässt alle Posen fahren. Eine Andeutung von Würde, verdammt spät. Aus die Maus, o Graus!

Wieder am 29. und 31. März sowie am 1., 2. und 4. April.

Rüdiger Schaper

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