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Kultur: Wer hat Angst vor Kennedy?

Chronik einer Legende: Das Attentat von 1963 bleibt mysteriös. Nun weiß eine TV-Doku: Castro war’s

Am 22. November 1963 sitzt der kubanische Revolutionsführer Fidel Castro in seinem Sommerhaus 120 Kilometer von Havanna entfernt mit dem französischen Journalisten Jean Daniel zusammen, als das Telefon läutet. Daniel ist aus Washington angereist, wo er zuvor Präsident John F. Kennedy interviewt und von diesem eine geheime Botschaft für Castro mit auf den Weg bekommen hat. Darin macht der Amerikaner dem Kubaner Vorschläge für eine Wiederannäherung zwischen den verfeindeten Ländern.

Daniel ist nur einer von mehreren diskreten Kontakten, die Kennedy und Castro nach der Raketenkrise von 1962 knüpften – zum Unbehagen der Hardliner. So gibt Castro seinem Gast auf die Rückreise über Washington eine positive Antwort für Kennedy mit. Als Castro den Hörer abnimmt, hört Daniel ihn sagen: „Was? Ein Attentat?“ Und dann: „Verletzt? Sehr schwer?“ Der Kubaner zeigt sich bestürzt. Wenig später wird im Radio der Tod des US-Präsidenten gemeldet, alle im Raum gedenken schweigend des ermordeten Erzfeindes. „Jetzt“, sagt Castro schließlich, „werden sie den Attentäter schnell finden müssen, aber sehr schnell, sonst werden sie uns die Schuld an dieser Sache in die Schuhe zu schieben versuchen.“

Zur selben Stunde, als die Schüsse in Dallas fallen, erhält in Paris der abtrünnige Castro-Gefährte Rolando Cubela von einem CIA-Mann – angeblich im Auftrag des Präsidenten-Bruders Robert Kennedy – einen mit tödlichem Gift präparierten Kugelschreiber, um bei Gelegenheit Castro zu ermorden. Für den unversehens zu Kennedys Nachfolger aufgestiegenen Texaner Lyndon B. Johnson ist das Attentat ein klassisches shootout: „Kennedy versuchte Fidel Castro zu erledigen, aber Fidel Castro war schneller“, meint er lapidar im Fernsehinterview.

Von Varadero aus nimmt Castro seinen französischen Gast anschließend im Wagen mit zu einem Termin. Sie stellen das Autoradio auf einen US-Sender ein. Man verfolge, heißt es, eine Spur zu einem Spion, der mit einer Russin verheiratet sei. Bald ist der mutmaßliche Mörder gefasst, ein „marxistischer Deserteur“ und Castro-Bewunderer: Lee Harvey Oswald soll den Präsidenten mit drei gezielten Schüssen aus einem Karabiner mit aufgesetztem Zielfernrohr aus großer Entfernung erschossen haben. Zwei Tage später wird Oswald im Polizeigewahrsam mit einem Schuss getötet – von dem Mafioso Jack Ruby. Die beiden sollen sich gekannt haben. Die Akten zu dem Fall werden schnell geschlossen. Laufende Ermittlungen werden auf Anweisung des FBI-Direktors John E. Hoover abgebrochen, die Warren-Kommission des Kongresses legt nach wenigen Wochen ihren Abschlussbericht vor. Das Ergebnis: Oswald war ein Einzeltäter ohne Hintermänner.

Erst 1976, nachdem die Hinweise auf eine Verschwörung und eine gemeinsame, angeblich von texanischen Ölmagnaten mitfinanzierte Mordaktion von CIA und Mafia gegen Kennedy sich häufen, bildet der Kongress unter Leitung von Frank Church eine neue Untersuchungskommission, die nach dreijähriger Arbeit feststellt, dass es wohl doch eine Verschwörung gegeben habe. Nur von wem oder welcher Seite, das wisse man nicht. Auch dass Oswald ein Einzeltäter war, wird mit der Zeit fraglicher: Die tödlichen Schüsse auf den Präsidenten sollen aus mehreren Richtungen abgefeuert worden sein. Der populärste Versuch einer Beweisführung für diese These stammt von Hollywoodregisseur Oliver Stone: in seinem akribischen Spielfilm „JFK“ von 1991.

Nun, wieder 15 Jahre später, zeigt die ARD „Rendezvous mit dem Tod“, einen Film des deutschen Dokumentaristen Wilfried Huismann und des amerikanischen Attentat-Experten Gus Russo. Ihnen zufolge heißt der wahre Kennedy-Mörder Fidel Castro. Die beiden haben zahlreiche lose, vor allem in Mexiko endende Fäden aufgegriffen und mit ruhiger Hand ein Netz geknüpft, mit dem sie den seit Jahrzehnten im Revolutionspalast von Havanna herrschenden Caudillo dingfest machen wollen. Ihr Film wird die Debatte zweifellos neu beleben. Doch dass Castro und der kubanische Geheimdienst G-2 wirklich die Täter sind, können auch sie nicht beweisen. Allerdings fügen Huismann/Russo dem mysteriösen Mosaik einige interessante Steine hinzu – selbst wenn ein Aufenthalt des damaligen kubanischen Geheimdienstchefs General Fabián Escalante am Mordtag in Dallas eher unwahrscheinlich sein dürfte.

Der Film basiert auf der EinzeltäterThese: Alle anderen Indizien lässt er außen vor – zum Beispiel jene, dass Oswald unter ständiger Beobachtung durch die CIA, die militante Exilkubaner-Szene und leibhaftiger Mafiosi stand. Auch in Mexiko, wo Oswald sich so auffällig wie erfolglos um ein Visum für Kuba bemühte. Laut Huismann/Russo soll er dennoch von kubanischen Geheimdienstleuten kontaktiert worden sein und Geld erhalten haben. Einige seiner US-Betreuer sowie sein CIA-Führungsoffizier wurden übrigens kurz vor ihrer Aussage vor dem Kongressausschuss 1976 ermordet.

Natürlich kann Castros Treffen mit Daniel zum Zeitpunkt des Kennedy-Attentats eine Inszenierung, ein Theatercoup des grandiosen Staatsschauspielers gewesen sein. Seit über 40 Jahren weiß man, dass Castro am 7. 9. 1963 auf einem Empfang der brasilianischen Botschaft in Havanna gedroht haben soll: „Wenn die Führer der USA nicht mit diesen terroristischen Aktionen aufhören, können sie selbst das Ziel ähnlicher Aktionen werden.“ Aber wieso sollte sich Castros Geheimdienst, der als einer der besten der Welt galt, ausgerechnet eines von sowjetischen, kubanischen und amerikanischen Agenten als psychisch instabil eingeschätzten Mannes mit wirren politischen Vorstellungen bedienen? Eines Mannes, der als Marine von Japan aus amerikanische G-2-Spionageflüge überwachte, in die Sowjetunion überlief, die ihn nicht haben wollte, und den man nach der Rückkehr in die USA nicht als Deserteur anklagte, sondern mit Pass und Arbeit versah? Wieso Castro für die Ermordung des US-Präsidenten einen solch unsicheren Kantonisten ausgesucht haben soll, dafür bleibt der Film die Erklärung schuldig.

Das Beruhigende an „Rendezvous mit dem Tod“: Der Film zeigt nichts Endgültiges, ist also eine Bereicherung für alle Verschwörungstheoretiker. Die Legenden rund um den Kennedy-Mord können weitergesponnen werden. Vielleicht einigt man sich ja eines Tages darauf, dass an allen Spekulationen etwas dran ist und jede Seite für ihre Zwecke Oswald nutzte und steuerte. Man hat ihn sich angesehen, ihn zugleich auf Distanz gehalten, ihn ermutigt und dem Einzeltäter vielleicht diskret etwas geholfen.

Bei der seit Jahrzehnten geführten Debatte um den Jahrhundertmord vom 22. 11. 1963 wird eines gern übersehen: Die Tat kam vielen zur rechten Zeit. Täter im Geiste gab es genug. Der mit erst 43 Jahren mit knappem Vorsprung vor Richard Nixon im November 1960 ins Weiße Haus gewählte John F. Kennedy verkörperte mit dem Justizminister, seinem Bruder Robert, ein neues, liberaleres, toleranteres Amerika. Das in Selbstzufriedenheit erstarrte Establishment fürchtete, dass dieser charismatische, gut aussehende, intelligente Mann mit der schönen Jacqueline Bouvier an seiner Seite die Ideen, die Kraft und Dynamik für zwei Amtsperioden besaß. Und danach würde vielleicht der jüngere Bruder übernehmen.

Die Aussicht, 16 Jahre die Kennedys im Weißen Haus sitzen zu haben, muss für die alten Manager der Macht ein Albtraum gewesen sein. Die Kennedys legten sich ja auch mit allen an: Mit dem Establishment in der eigenen Demokratischen Partei, den Militärs, der CIA und dem FBI. Mit der Rüstungsindustrie,den Exilkubanern und dem organisierten Verbrechen, das den Verlust seines Spielerparadieses auf Kuba beklagte.

So empfiehlt sich zur Erhellung all der möglichen Motive für den Kennedy-Mord bis auf weiteres die Romanlektüre. Da ist James Ellroys schnodderige Abrechnung mit dem Schlapphut-Milieu „Ein amerikanischer Thriller“ von 1995 sowie Norman Mailers „Epos der Geheimen Mächte“. Den Band „Feinde“ beschließt er übrigens mit einem Zitat von Wladimir Iljitsch Lenin: „Wer wen? Wer hat das alles mit wem inszeniert, und zu welchem Zweck?“

Volker Skierka ist Autor von „Fidel Castro – Eine Biografie“ und Co-Autor des ARD-Films „Fidel Castro - Ewiger Revolutionär“ (2004). – „Rendezvous mit dem Tod: Kennedy und Castro“ von Wilfried Huismann und Gus Russo läuft morgen in der ARD um 21 Uhr 45.

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