zum Hauptinhalt

Kultur: Wer schweigt, wird schuldig

Wie der Mauerbau vor 50 Jahren Schriftsteller in Ost und West auf die Barrikaden trieb

Der 13. August schlug auch im intellektuellen Berlin ein wie eine Bombe. Günter Grass zum Beispiel, der damals Berliner ist und in Friedenau lebt, fährt noch am gleichen Tag zum Brandenburger Tor und sieht sich „den unverkennbaren Attributen der nackten und dennoch nach Schweinsleder stinkenden Gewalt gegenüber“. Der spätere Nobelpreisträger, damals noch nicht mehr als der Autor der „Blechtrommel“, des Bucherfolgs des Herbstes 1959 – an dem sich der traditionelle Literaturgeschmack aber noch kräftig reibt –, macht am Tag danach seiner Erbitterung Luft in einem offenen Brief an Anna Seghers, der Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes der DDR. Damit beginnt eine Debatte, die die tiefen Gegensätze im Bewusstseinszustand von West und Ost aufreißt – einschließlich der Reflexe, die sie im Disput der Bundesrepublik finden.

Der Brief ist ein Appell an die große Dame der DDR-Literatur, sich gegen Panzer und Stacheldraht auszusprechen. Doch Grass belässt es nicht bei der Anprangerung des Ereignisses, das er, Jahrgang 1927, als gebranntes Kind erlebt: als „eine der uns Deutschen so vertrauten und geläufigen plötzlichen Aktionen mit Panzernebengeräuschen, Rundfunkkommentaren und obligater BeethovenSymphonie“. Zugleich versichert er die Kollegin seiner Bereitschaft zu einer Parallelaktion: Er werde gegen Globke, die Notstandsgesetze und den Klerikalismus protestieren – Letzteres indem er ankündigt, in eine Kirche in Deggendorf zu spucken, in der sich ein angeblich antisemitisches Altarbild befindet.

Drei Tage später sind die Mitglieder des DDR-Schriftstellerverbandes der Adressat seines Protestes, dem sich auch Wolfdietrich Schnurre angeschlossen hat, ein damals in Berlin bekannter Autor. Gleicher Tenor, gleiche rigorose Logik: die DDR-Autoren sollen das Verhalten ihrer Regierung verurteilen, so Grass, Schnurre und ihre Kollegen die Regierung der Bundesrepublik mit ihrer Kritik überziehen. Ein politisches Ärgernis ist das andere wert. Pardon wird nicht gegeben, eine Haltung der „inneren Emigration“ nicht erlaubt, „wer schweigt, wird schuldig“.

Nicht weniger bemerkenswert ist die Reaktion in der DDR. Schon einen Tag später meldet sich Stefan Hermlin, bedeutender Poet und DDR-Aushängeschild, nicht zuletzt in der Kulturszene des Westens: Er jubelt nicht, aber er gibt dem „ernste Zustimmung“. Das DDR-Autoren-Fußvolk, die Paul Wiens, Bruno Apitz, Hans Marchwitza, folgt. Und es bietet nun allerdings das ganze Kriegstreiber-, Menschenhandel-, Bonner-Ultra-Vokabular der DDR-Propaganda auf. Motto: Der Mauerbau hat Berlin zu einem Kampffeld des Friedens gemacht. Auch der große Komponist Paul Dessau ist dabei, um keinen Grad reflektierter. Und Peter Hacks entblödet sich nicht, die DDR den West-Schriftstellern als Zuflucht anzubieten für den Fall „dass man nicht nur ihren Ruf mordet, sondern ihren lebendigen Körper“.

Die ideologische Unbeirrbarkeit und die klappernden Leerformeln, mit denen die DDR-Seite ihre Doktrin vertritt, haben selbst heute, nachdem sie auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sind, noch etwas Beängstigendes. Zumal sie sich eins zu eins wiederholen in den Verlautbarungen der einschlägigen Institutionen, sei es Akademie, sei es Kulturbund. Aber auch die westdeutschen Erklärungen kann man nicht ohne gemischte Gefühle lesen. Das macht der zwanghafte Eifer, mit dem sie in den Kampf der Gewissen ziehen. Und dass sie dabei nicht im Mindesten die Unangemessenheit stört, dass ein Akt der Unmenschlichkeit, der Mauerbau, mit dem kritischen Routine-Palaver in der Bundesrepublik auf gleiche Stufe gestellt wird.

Der ost-westliche Schlagabtausch zieht seine Funkenspuren durch die bundesrepublikanischen Feuilletons. Manche wie W. E. Süskind, der nach dem Krieg das „Wörterbuch des Unmenschen“ herausgab, ein erstes Zeugnis der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, damals einer der Köpfe der Süddeutschen Zeitung, monieren nur, dass die Proteste der West-Autoren „etwas Vorlautes“ habe. Anderswo, zum Beispiel im Tagesspiegel, sucht Mit-Herausgeber Walter Karsch die Auseinandersetzung: Er sieht die Ost-Schriftsteller in einer ideologischen Falle – „wer A sagt, muss B sagen. Wer Ja zum 17. Juni 1953, zu Ungarn gesagt hat, muss Ja auch zu dem Mord an dem wehrlosen Unbekannten im Teltow-Kanal sagen“ –, die Reaktionen auf den Grass-Brief aber als „östliche Ohrfeigen für westliche Naivitäten“. Wolf Jobst Siedler schlägt in die gleiche Kerbe: Nun sehe man, was von der DDR-Parole „Deutsche an einen Tisch“ zu halten sei.

Dabei gehört zu dieser Debatte, dass sie in eine Phase fällt, in der die kulturelle Landschaft in Bewegung geraten ist. Die Herausforderer der DDR-Autoren sind Vertreter der jungen Generation, die dem Kultur- und Literaturbetrieb der nächsten Jahre und Jahrzehnte ihren Stempel aufdrücken wird; die meisten sind Mitglieder der Gruppe 47. In Hamburg hat eben ein erstes, aufsehenerregendes Treffen von Schriftstellern aus der DDR und der Bundesrepublik stattgefunden, bis dahin ein kaum vorstellbarer Vorgang – auf dem Podium für den Westen Enzensberger und Walser, für den Osten Hermlin und Hacks. Im Sommer hat sich die gleiche Autoren-Phalanx zu Wahlaufrufen für die SPD durchgerungen. Im Monat des Mauerbaus erscheinen sie unter dem Titel „Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?“ – ein Novum in der deutschen Nachkriegsgeschichte, ein Auftakt für die Auseinandersetzungen der sechziger Jahre.

Die Mauerbau-Kontroverse vermischt sich mit den Selbstverständigungs-Prozessen in der Bundesrepublik. Im September zieht Wolf Jobst Siedler in dieser Zeitung eine erste Bilanz – unter dem ironisch blitzenden Titel „Die Linke stirbt, doch sie ergibt sich nicht“. Mit bitterem Hohn spricht er von der „heimatlosen Linken“, die sich hartnäckig der Illusion hingebe, ein Dialog mit den DDR-Autoren sei möglich. Der Mauerbau habe es an den Tag gebracht: „Der Traum von einer Literatenrepublik, in der jede Partei an ihren eigenen Regierungen herummäkelt, bis man sich auf einer mittleren Linie getroffen hat, ist ausgeträumt. Diskutieren statt Schießen wollte die Linke. Nun kann sie es nicht mehr. Denn ihre Gesprächspartner verweigern ihr die Passierscheine“.

Zu dem Disput im Schatten des Mauerbaus gehören auch Einsichten, in denen schon die ersten Wehen der Entspannungspolitik zu spüren sind. Zum Beispiel die Diagnose von Hans Magnus Enzensberger, dass „in diesem Herbst die Spatzen von den Dächern pfeifen: Die Deutschlandpolitik der beiden deutschen Regierungen ist gescheitert“. Zum Beispiel Forderungen wie die von Hans Werner Richter nach einer aktiven Ostpolitik. Und es finden sich Günther Rühles Einsichten in das Verhältnis von Schriftstellern zu ihren Gesellschaften: Der politische Ehrgeiz der neuen Generation werde erst ans Ziel kommen, wenn sie nicht nur deklamatorische Briefe an Chruschtschow und die Uno schreiben – sie setzten dem heftigen Wechsel der Positionen und Resolutionen die Schaumkronen auf –, sondern „wenn ihre Kritik am Staat sich durch die Liebe zum Staat rechtfertigt“.

Übrigens finden sich im Briefwechsel auch Abschiedsbriefe. Ernst Bloch begründet, weshalb er mit seinen 76 Jahren nicht mehr in die DDR zurückkehrt: Der Mauerbau lasse erwarten, dass „für selbstständig Denkende überhaupt kein Lebens- und Wirkungsraum mehr bleibt“. Auch Peter Palitzsch, Brecht-Schüler und Mitglied des Berliner Ensembles, der in Ulm inszenierte, bleibt im Westen. Der offene Brief, mit dem der künstlerische Beirat auf seinen Abschiedsbrief antwortet, ist das vielleicht deprimierendste Zeugnis für die Verfassung der DDR-Elite. Seine selbstquälerischen Klärungs- und Erklärungsversuche weisen die Größen des Ensembles – darunter Helene Weigel, Hanns Eisler, Ekkehard Schall – eiskalt ab: „Wir haben Verluste erlitten. Wir haben sie ausgeglichen.“ Man kann daraus lernen, welcher Verlust an Menschlichkeit und welche antizivilisatorische Aggressivität Ideologie herbeiführen kann. Der Mauerbau hat auch damit zu tun.

Die Debatte ist dokumentiert im von Hans Werner Richter herausgegebenen, im Dezember 1961 veröffentlichten rororo- Band : „Die Mauer oder der 13. August“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false