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Kultur: Wer zurückschaut, darf nichts sehen

Es ist gefährlich, nach einem Luftangriff zurückzuschauen.Der Reporter der "Genesis" berichtet: "Die Sonne war gerade über der Erde aufgegangen, als Lot nach Zoar kam.

Es ist gefährlich, nach einem Luftangriff zurückzuschauen.Der Reporter der "Genesis" berichtet: "Die Sonne war gerade über der Erde aufgegangen, als Lot nach Zoar kam.Nun ließ Jahwe über Sodom und Gomorra Schwefel und Feuer regnen.So vernichtete er diese Städte und die ganze Gegend und alle Bewohner der Städte und alles Gewächs des Bodens.Seine Frau aber schaute zurück und wurde zu einer Salzsäule." Als in der Nacht vom 13.Februar 1945 Dresden zerstört wurde, kamen 135 000 Menschen ums Leben, mehr als am 6.August 1945 in Hiroshima.In einem Kühlkeller des Schlachthofes Nummer 5, zusammengekauert zwischen ein paar übrig gebliebenen Schweinehälften, die an Haken von der Decke hingen, überstanden etwa hundert amerikanische Kriegsgefangene den Feuersturm.

Einer dieser Überlebenden war der spätere Schriftsteller Kurt Vonnegut.Zum Zeitpunkt des Angriffs auf Dresden war er 23 Jahre alt.Er mußte noch einmal so lange leben, um sein Überleben beschreiben zu können.Im ersten Kapitel seines Romans "Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug" heißt es über Sodom und Gomorra: "Die Menschen in diesen Städten waren schlecht, was allgemein bekannt ist.Die Welt war besser dran ohne sie.Und es wurde Lots Frau natürlich gesagt, sie solle nicht dorhin zurückschauen, wo alle diese Leute und ihre Wohnungen gewesen waren.Aber sie tat es doch, und dafür liebe ich sie, denn es war so menschlich.Also wurde sie in eine Salzsäule verwandelt.So geht das.Die Leute sollen nicht zurückschauen.Ich werde es jedenfalls nicht mehr tun.Ich habe jetzt mein Kriegsbuch beendet.Das nächste, das ich schreibe, soll lustig werden.Dieses ist ein Mißerfolg und mußte es sein, da es von einer Salzsäule geschrieben wurde." Und dann, nach diesen Sätzen, schickt der Autor seinen Helden, den armen Billy Pilgrim, auf seine Lebensreise, deren wichtigste Zeit- und Erinnerungsschleuse der Schlachthofkeller in Dresden ist.

Knapp vier Wochen nach der Bombardierung Dresdens wurde Halberstadt zerstört.Alexander Kluge, der diesen Angriff überlebte, schrieb mehr als dreißig Jahre später: "Der Bomberpulk, etwa 200 Maschinen, denen im Abstand von zehn Flugminuten weitere 115 Maschinen folgten, flog in etwa 7000 m Höhe von Süd-Westen auf die Stadt Halberstadt zu." Zahlenangaben, die auch der Augenzeuge nachträglich recherchieren mußte."Die Pionierphase solcher Angriffe mit viermotorigen Fernbombern B 17, jeder eine Werkstatt, aber der kompakte Verband als Fabrik, liegt 3-4 Jahre zurück.Die Komplettierung des Verfahrens hat Faktoren, die in der Pionierphase eine Rolle gespielt haben, wie Gottvertrauen, militärische Formenwelt, Strategie, Binnenwerbung gegenüber den Besatzungen, damit sie angriffswillig sind, Hinweise auf Eigentümlichkeiten des Ziels, Sinn des Angriffs usf.als irrational ausgegliedert." Ob Phase eins, zwei, drei oder x - immer muß der Stratege die Definitionsmacht darüber behalten, was im gegebenen Augenblick als "rational" und als "irrational" zu gelten hat.Der Stratege muß auf der Position des exklusiven Überblicks beharren, auch wenn die Geschichte des Krieges wieder und wieder bewiesen hat, daß der Blick vom Feldherrnhügel sehr oft verschleiert und der Befehl aus der Kommandozentrale sehr oft falsch ist.

Die Position des exklusiven Überblicks gibt es nicht.Sie ist eine strafbewehrte Kriegsfiktion.Der Soldat, der im Krieg diese Fiktion, etwa in Gestalt eines Befehls, in Zweifel zieht, fällt dem Standrecht anheim.Wer gehorcht und kämpft, ist die Waffe dessen, der nicht kämpft und befiehlt.Eben das ist der Wesens- und Machtkern eines jeden militärischen Apparates, auch wenn dieser Apparat von demokratischen Gesellschaften in Aktion gesetzt wird.Der amerikanische Schriftsteller und ehemalige Bomberpilot Joseph Heller erzählt in seinem Roman "Catch 22" von den Angriffsflügen eines US-Geschwaders während des Zweiten Weltkrieges in Italien: "Das Geschwader hatte trotz des Zielgerätes, das eine Bombe aus fünfzehnhundert Meter Höhe in ein Gurkenfaß befördern konnte, die Brücke bei Ferrara nun schon zum siebten Mal verfehlt, und es war bereits eine Woche vergangen, seitdem Colonel Cathcart sich erboten hatte, die Brücke innerhalb von vierundzwanzig Stunden durch seine Maschinen zerstören zu lassen.Kraft war ein magerer, harmloser Junge aus Pennsylvania, der nichts weiter wollte als beliebt sein, und dem es bestimmt war, selbst mit einem so bescheidenen und entwürdigenden Ehrgeiz zu scheitern.Statt beliebt zu sein, war er tot, ein blutendes Holzscheit auf dem barbarischen Scheiterhaufen." Bei den Bomberbesatzungen, die über die deutschen Städte geschickt wurden, war die Überlebensrate 40:60.

In der deutschen Literatur nach 1945 gibt es nichts, was "Catch 22" (aus der Perspektive der Bombardierenden) oder "Schlachthaus 5" (aus der Perspektive der Bombardierten) an die Seite zu stellen wäre, auch Kluges Dokumentardidaktik reicht nicht heran.In der Nachkriegsliteratur, genauer gesagt: in der heute als solche kanonisierten, spielt der Luftkrieg - wie übrigens auch die Vertreibung - eine ganz nebensächliche Rolle.Außer Hans Erichs Nossacks Erzählungen über die Bombardierung Hamburgs, einem arg metaphyselnden Roman von Hermann Kasack und der radikal verzweifelten "Vergeltung" von Gert Ledig, den man zur Verdrängungssicherheit ins Abseits geschoben und vergessen hat, gab es kaum Texte von ästhetischem Rang, in denen die Bombardierung der Städte eine wesentliche Rolle spielte.In der deutschen Literatur nach dem Krieg kommen zwar die Trümmer vor - und zwar meistens als Landschaft, die sie ja gerade nicht waren -, das Zertrümmern aber hat kaum Erzähler gefunden.

W.G.Sebald, der im Herbst 1997 mit dem Hinweis auf diese große Lücke im Gedächtnis der Literatur Aufsehen erregte, erklärt das in seinem gerade erschienenen Essay "Luftkrieg und Literatur" (Carl Hanser Verlag, München, 34 Mark) so: "Die Frage, ob und wie der von Gruppierungen innerhalb der Royal Air Force seit 1940 befürwortete und ab Februar 1942 unter Aufbietung eines ungeheuren Volumens personeller und wehrwirtschaftlicher Ressourcen in die Praxis umgesetzte Plan eines uneingeschränkten Bombenkrieges strategisch oder moralisch zu rechtfertigen war, ist in den Jahrzehnten nach 1945 in Deutschland, soviel ich weiß, nie Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden, vor allem wohl deshalb nicht, weil ein Volk, das Millionen von Menschen in Lagern ermordet und zu Tode geschunden hatte, von den Siegermächten unmöglich Auskunft verlangen konnte über die militärpolitische Logik, die die Zerstörung der deutschen Städte diktierte."

Die Flächenbelegung der Städte erst mit Spreng- und dann mit Brandbomben wurde von den angloamerikanischen Strategen als moral bombing bezeichnet.Diese Strategie der Demoralisierung von oben war nicht erfolgreich, was heute auch von britischen und amerikanischen Militärhistorikern kaum noch in Abrede gestellt wird.Glommen am Himmel die "Christbäume" auf, mit denen die anzugreifenden Areale in der Luft abgesteckt wurden, liefen die Menschen unter Sirenengeheul in die Keller und warteten.Wer diese Art des Wartens überleben wollte, durfte nicht zurückschauen.Auch nach Kriegsende nicht.Die den Nachgeborenen zugutekommende Wiederaufbauarbeit, die in ihrem irritationslos störrischen Fleiß etwas Schockierendes hat, folgte dem Modell Lot: Nach vorne schauen, weitermarschieren.Die Erinnerungen wurden in Quarantäne geschickt, aus der sie eigentlich erst in den letzten zwanzig Jahren wieder entlassen wurden, aufgebläht vom Gären eines nachholenden Moralismus.

Das Wegsperren der Erinnerungen betraf gleichermaßen das, was man getan, was man geduldet, und was man erduldet hatte.Stillschweigend wurden Holocaust, Luftkrieg und Vertreibung gegeneinander aufgerechnet.Vom einen wollte man nichts gewußt haben, mit dem anderen hatte man es dennoch gebüßt.Auf beides sollte möglichst nicht zurückgeschaut werden.

Ein weiterer Grund für die Nichtpräsenz der Luftangriffe in den öffentlichen Diskussionen nach dem Krieg ist wahrscheinlich die Luftbrücke.Bei Sebald spielt dieses Motiv keine Rolle, er erwähnt es nicht einmal - und doch steht zu vermuten, daß die Überbietung der Bombenflüge als bis dahin größtem Lufttransport der Menschheitsgeschichte durch den noch gigantischeren Lufttransport von Lebensmitteln die Hinnahme der Vergeltung in die Annahme der Versorgung umwandelte.Oder hätte man die Rosinenbomber in Berlin mit der Erinnerung an die Fliegerbomben von Dresden, Halberstadt oder gar Berlin selbst empfangen sollen? Die später zur Nostalgie geronnene Dankbarkeit der Westdeutschen und West-Berliner für Care-Pakete half beim Beiseiteschieben des Luftkrieges.

Aber auch diese Erinnerungen kamen schließlich aufgebläht wieder aus der Quarantäne.Die merkwürdig hysterische Selbsttraumatisierung, die während des Golfkrieges von jüngeren Leuten auf Plätzen und Straßen deutscher Städte öffentlich aufgeführt wurde, waren ein spätes Echo des Schocks, den sich die Kriegsgeneration nie hatte anmerken lassen wollen.Heute allerdings, da sich das war theatre der Strategen in unmittelbarer Nachbarschaft befindet, da die laptop soldiers, wie es in amerikanischen Diskussionen über "The Future of Warfare" heißt, mit eben dieser Zukunft handgreiflich konfrontiert sind und feststellen, daß "Select enemy.Delete" als Strategie defizitär ist, heißt das Schreckenswort wieder Bodentruppen.

BRUNO PREISENDÖRFER

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