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Kultur: Wer’s glaubt, wird hungrig

Gralshüter, Gralssucher: zum Streit um das gemeinsame Abendmahl auf dem Ökumenischen Kirchentag in Berlin

Manchmal, wenn er gar nicht mehr weiter wusste bei der Konstruktion des brillantesten Dogmengebäudes seiner Epoche, soll der Startheologe den brummenden klugen Kopf in einen Tabernakel gesteckt haben.

Die Legende ist reizvoll: Man stelle sich vor, unsere Intellektuellen, vielleicht sogar die Politiker würden, sobald sie mit den Sinn- und Versorgungsfragen der Menschheit am Ende sind, das Gleiche tun!

Bei Thomas von Aquin, dem italienischen Gelehrten, dessen verwegenes Denksystem so kühn Rationalität und Glaubensartikel verbunden hat, wirkt die bizzare Anekdote lächerlich – oder sympathisch. Tabernakel nennt die Kirche seiner Zeit ihre Sakraments-Box zur Verwahrung geweihter Oblaten. Die Vokabel bezieht sich auf jenes Nomadenzelt, in dem das Volk Israel seine exklusiv empfangenen Gesetzestafeln beherbergt hatte, als Zeichen der Gegenwart Gottes während des langen Wüstenzugs ins Gelobte Land. Ein asketischer Wüstentyp ist dieser Thomas von Aquin übrigens nicht; so dick sei der, spottet man, dass ihm beim „mea culpa“-Bekenntnis während der Messe ein Ministrant stellvertretend an die Brust schlagen müsse! Trotzdem glaubt dieser Poet glutvoller Abendmahlshymnen fest daran, dass der Mensch nicht vom Wurstbrot allein lebt; so waren die Leute damals, im Mittelalter.

Auch die Gäste des Ökumenischen Kirchentags sind keine platten Materialisten, sonst wären sie nicht zu Hunderttausenden für Sinndebatten und Bibelarbeit nach Berlin gepilgert. Doch die selbstverständliche Vorstellung früherer Zeiten von einer Präsenz des Übernatürlichen ist ihnen fremd; im Streit um das trennende Abendmahl manifestiert sich solcher Wandel. Theologen sollen „die Menschen nicht mit Spitzfindigkeiten aus dem 16. Jahrhundert belasten“, fordert ein Sprecher der Initiative „Kirche von unten“, die mit orangenen Stoffbändern für das entgrenzte Liebesmahl wirbt. Im Osten der Stadt lädt ein Priester, dessen Name aus Furcht vor Sanktionen katholischer Autoritäten verheimlicht wird, zur „offenen“ Messfeier. Derweil versuchen evangelische Kirchenführer, die den gemeinsamen „Tisch des Herrn“ befürworten, die Problematik tiefer zu hängen. „Das, um was es beim Abendmahl geht, eignet sich nicht zur Demonstration von Aufsässigkeit“, sagt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Manfred Kock, und rät davon ab, „das Sakrament für kirchenpolitische Ziele zu funktionalisieren.“

Tatsächlich steht die sekundäre Bedeutung des Abendmahls für den Gottesdienstalltag der Protestanten in keinem Verhältnis zum aufgeputschten Interkommunionsstreit; bei Katholiken wird da schon eher ein zentraler Nerv getroffen. Doch die strategische Funktionalisierung des hochheiligen religiösen Dinners hat Tradition. So kämpften in den Hussitenkriegen des 15. Jahrhunderts die Tschechen mit dem „Laienkelch“-Emblem auf ihren Fahnen gegen den Habsburger Klerikalismus; die Teilhabe des Volkes am „Blut Christi“, das damals in der Messe nur Amtsträger trinken durften, wurde zum emanzipatorischen Slogan, der Lebenssaft zum Symbol politischer Gerechtigkeit.

Im Streit um das Abendmahl, jene von einem Wanderrabbi im Anschluss an sein Passahmahl mit kryptischen Stiftungsworten („Mein Leib, mein Blut“) vor cirka 1970 Jahren eingesetzte Brotzeit, formulierten sich Machtanspruch und Identitätsbehauptung. Während Zeitgenossen des Thomas von Aquin ihr magisches Mahl-Verständnis in Mordphantasien hineinprojizierten, weshalb sie jüdischen Nachbarn neben der Hostienschändung vorwarfen, kleine Christen in Mazzen zu verbacken, entwickelte sich 500 Jahre später die Abendmahlspolitik des Großen Kurfürsten in Preußen eher pragmatisch. Der verordnete – nach dem 30jährigen (Glaubens-)Krieg und zur Integration hugenottischer Immigranten – eine Zwangsunion der verfeindeten Calvinisten und Lutheraner. Was ein Pastor an der Berliner Nikolaikirche, der großartige Choraldichter Paul Gerhardt, wegen des falschen Abendmahls der Reformierten nicht akzeptieren konnte. Er verlor seine Pfarrei und wurde in den Spreewald verbannt; sein einziges Abendmahlslied („Du reichst mir zu genießen/dein teures Fleisch und Blut“) klingt allerdings viel weniger überzeugend als seine barocken Verse von Lebensleid und Gottvertrauen...

Nicht nur Spekulationen und Pogrome, Prachtgemälde und -architekturen, poetische Liturgien, begeisternde Ordensbewegungen hat die Verehrung der Eucharistie, wie der Ritus im Zentrum katholischer und orientalischer Gottesdienste genannt wird, hervorgebracht: Für die Christenheit, der ein fixierbares Zentralheiligtum fehlt (Jerusalem oder Rom sind mit der Bedeutung arabischer Pilgerorte für Muslime nicht vergleichbar), befriedigte das „Allerheiligste“ im Tabernakel den populären Wunsch nach einem lokalisierbaren „Mekka“ – als Anbetungsort vergöttlichter Materie in Zeit und Raum.

Um den Traum vom Festhalten der leibhaftig gewordenen Himmelsliebe kreisen auch die Sagen von König Artus und Ritter Parsifal. Der Patrizier Joseph von Arimathia, heißt es da, habe einst mit dem Abendmahlskelch Jesu das Blut des Gekreuzigten aufgefangen, und diesen „Heiligen Gral“, aus dem ewige Jugend und unbegrenzte Speisen fließen, weitergegeben. Eine esoterische Welterlösungsjagd nach dem Wunderbecher begann und dauert an, unter Fantasy-Surfern im Internet. Andere moderne Interpreten entmythologisierten die irrationale Zumutung der Eucharistie und ihre Überhöhung des kannibalischen Tabus, dieser Extremform einer physischen Einverleibung. Die exzentrischste Adaption nahm in seinem Film „Der Koch, der Dieb, seine Frau und der Liebhaber“ Peter Greenaway vor: Ein Verbrecher tötet einen Buchhändler, indem er ihm Werke der abendländischen Aufklärung in den Rachen stopft. Die Geliebte lässt den Toten zubereiten, serviert ihn – als fleischgewordenen Geist Europas – seinem Mörder. Der verzehrt das pervertierte Abendmahl, wie Luther eine Mahnung des Apostels Paulus übersetzt, „sich selber zum Gericht“.

Ausschmückungen und Verfremdungen des Stoffes geben ein Echo von den Emotionen, die der Abendmahlsglaube auszulösen vermochte, bis in seine dogmatischen Verwerfungen. Dabei stritten die Konfessionen vor allem darum, wie eine „Realpräsenz“ ihres höchsten Chefs zu erklären sei. Für den Reformator Calvin symbolisierte der Konsum von Brot und Wein, dass sich die Seele des Gläubigen mit Christus im Himmel vereinigt. Dagegen lehren die katholische und die orthodoxe Kirche, dass unter dem Segenswort des Priesters beide Lebensmittel, deren Außengestalt bestehen bleibt, zu Leib und Blut des menschgewordenen Gottes mutieren: unrevidierbar. Eine dogmatische Zwischenposition – „in, mit und unter“ dem Brot sei Christus real präsent – nahmen die Lutheraner ein; sie pflegen seit 1973 mit den Reformierten jene Mahlsgemeinschaft, der sich die katholische Hierarchie verweigert. Denn wo Protestanten in der Gruppendynamik des Rituals einen Weg zur Einheit sehen, betont das katholische Lehramt den unsichtbaren Aspekt der Vollendung, die Intimität des mystischen Stoffwechsels: Ohne Konsens und gemeinsame Autoritätsstruktur kein wahres Wachstum des kollektiven „Leibes Christi“.

Ob solche Fachsimpelei für den Christenalltag von Belang ist, können konfessionsverschiedene Ehepartner kaum noch nachvollziehen. Sie verbindet mit jenen Kirchenbesuchern, die sich durch ein liturgisches Fastfood-Happening am ehesten stimulieren lassen, ihre wachsende Distanz zur Tradition. Kritiker evangelischer Abendmahls-Coolness unken indes, bald werde die Formlosigkeit der ins Beliebige spiritualisierten Feier bei „Cola und Chips“ ankommen. Da lässt sich dem katholischen Jahrtausendspagat – zwischen intellektuellem Anspruch und stoischem Beharren auf der göttlichen „Realpräsenz“ – gewisser Respekt nicht versagen.

Doch das fantastische katholische Dogma vom Verwandeln der alten Welt in die „neue Materie“ göttlicher Liebe ist konsequenter als die dazugehörige Abendmahlspraxis : Ein Zeichen menschlicher Grundversorgung, unter dem sich der Allmächtige verbirgt, sollte bei denen, die dran zu glauben meinen, dramatische soziale Wirkungen nach sich ziehen. Von „Hunger und Durst nach Gerechtigkeit“ spricht das Neue Testament; dass zum Liebesmahl die ökonomische Solidarität der Tischgesellschaft gehört, wird dort ebenfalls angemahnt. Dass Christen ihre Existenz als Brot für die Welt begreifen müssten, umschreibt Anno 117 ein arrestierter Bischof auf dem Weg ins Colosseum: „Weizen Gottes bin ich, die Zähne der wilden Tiere werden mich zermahlen.“ Martyriums-Euphorie? Provokation der Gleichgültigkeit?

Wer’s glaubt, wird hungrig.

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