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Kultur: Werte und Wirtschaft

Wie viel Platz sollen wir dem Markt in unserem Leben einräumen? Robert Shiller und Michael Sandel liefern unterschiedliche Antworten.

Darf man auf den Tod von Menschen eine Wette abschließen? Die meisten Menschen würden auf diese Frage mit einem klaren „Nein“ antworten. Sie finden, dass man auf das Leben anderer keine Spekulationen anstellt, dass man damit keine Geschäfte machen darf. Doch was ist eine Lebensversicherung? Sie ist nichts anderes als eine solche Wette. Lebt ein Versicherter lange, bedient er seine Police vollständig und pünktlich, gewinnt die Versicherung. Stirbt er vorzeitig, verliert die Versicherung.

Fragt man den Ökonomen, so argumentiert er, dass eine Lebensversicherung Familien, deren Ernährer verstirbt, vor Existenznöten bewahren kann. Je ausgefeilter und differenzierter das Versicherungsangebot ist, desto besser kann der Versicherte seine individuellen Lebensrisiken absichern.

Der Philosoph sieht das kritischer. Zwar will auch er die Familie nicht ins Elend stürzen, doch denkt er darüber nach, ob eine Lebensversicherung die Würde des Versicherten herabsetzen könnte. Wenn zum Beispiel die Angehörigen hoffen, dass der Policenbesitzer bald stirbt, damit sie die Prämie kassieren können. Wenn ein Unternehmen auf seine Beschäftigten Versicherungen abschließt und im Todesfall kassiert. Der Philosoph könnte argumentieren, dass das Leben an sich seine Würde verliert, wenn es in Geldwerten ausgedrückt wird.

Der Ökonom heißt Robert J. Shiller, der Philosoph Michael J. Sandel. Beide sind Professoren und lehren an amerikanischen Elite-Universitäten. Beide haben in diesem Frühjahr Bücher geschrieben, die jetzt in deutscher Übersetzung erschienen sind.

Sandel und Shiller liefern wichtige Beiträge zur spannendsten Debatte dieser Zeit: Wie werden wir leben, wie wollen wir leben? Beide suchen nach Wegen, die Welt friedlicher und besser zu machen. Shiller empfiehlt Marktmechanismen, damit sich Werte wieder entfalten können. Sandel setzt auf Werte, damit nicht Marktmechanismen uns, sondern wir den Markt bestimmen.

Shiller plädiert in seinem Buch „Märkte für Menschen. So schaffen wir ein besseres Finanzsystem“ leidenschaftlich für eine Ausweitung und Verbesserung der Finanzmärkte, damit die Menschen künftig freier und besser entscheiden können, wie sie leben wollen. Sandel argumentiert in „Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes“ andersherum. Er warnt davor, immer weitere Lebensbereiche den Marktprinzipien auszuliefern. Nicht nur, weil so die Ungleichheit verstärkt und der Zugang zu elementaren Gütern wie Bildung oder Gesundheit erschwert würden. Die Güter selbst veränderten sich, wenn sie auf Märkten gehandelt würden, warnt er. Wer etwas auf dem Markt kaufe oder verkaufe, mache sich weniger Gedanken über den übermateriellen Wert der Ware. Das verändere Gesellschaften, entmoralisiere sie, schade dem freiwilligen Engagement, den bürgerlichen Tugenden und dem Zusammenhalt.

Sandel nennt dafür Beispiele: Ist es in Ordnung, dass man sich aus Flughafen-Warteschlangen durch einen Aufpreis auf das Ticket herauskaufen kann? Sind wir damit einverstanden, dass Schüler für gute Leistungen bezahlt werden? Finden wir es richtig, dass Eltern im Kindergarten eine Strafe zahlen müssen, wenn sie ihr Kind zu spät abholen? Oder korrumpiert die Vergeldlichung – der Markt – gesellschaftliche Tugenden wie Geduld, Lerneifer und Pünktlichkeit? Sandel sagt, dass das Gefühl für Anstand und ethisch richtiges Verhalten verloren geht, wenn es gesellschaftlich legitimiert ist, sich aus Konflikten herauszukaufen. Es werde einfach nicht mehr trainiert und verkümmere deshalb.

Shillers Antwort auf diese Fragen ist klar: Der Markt ist der effizienteste Dienstleister einer Gesellschaft, er hat ihr zu dienen. Ist er richtig organisiert und geregelt, dann ist der Markt das beste Instrument, um den Zugang zu den Ressourcen offen zu halten, das friedliche Zusammenleben zu gewährleisten und die Ungleichheit zu zügeln. Wo die Marktpreise zu hoch für Bedürftige sind – etwa im Gesundheitswesen, bei Rechtsstreitigkeiten, in der Bildung – müssen entweder der Staat oder Stiftungen aushelfen. Gegen einen starken Staat hat Shiller gar nichts. Er soll dafür sorgen, dass seine Bürger Zugang zu allen Gütern bekommen, die sie brauchen. Und er soll sie beteiligen.

Sandel dagegen hält nichts vom Reparaturbetrieb. Er sagt: Eine Gesellschaft muss und kann sich entscheiden, welche Güter sie nach Marktprinzipien handeln will – und welche Güter und Werte sie bewahren will, indem sie sie dem Markt entzieht.

Interessanter und origineller ist Shiller allemal, auch wenn die hastige Übersetzung seinen Thesen viel von ihrer Eleganz nimmt. Er bürstet die aktuelle Kritik am Finanzmarkt und am Marktprinzip im Allgemeinen gegen den Strich. Weder leugnet er Fehlentwicklungen, noch spielt er Phänomene wie Gier, Ungleichheit und Habsucht herunter. Doch er glaubt daran, dass man es besser machen kann, und dass demokratische Gesellschaften das auch tun werden.

Michael Sandel dagegen vertritt eine zutiefst konservative Haltung. Sie ist sympathisch, jederzeit anschlussfähig und bedient die populären Bedenken gegen die Wettbewerbswirtschaft. Sie hat nur einen Nachteil: Sandel sagt nichts darüber, ob sich die Uhr auch zurückdrehen ließe, wenn man sie denn zurückdrehen wollte.

Hier ist der Philosoph dem Ökonomen voraus: Denn den Ökonomen nimmt man es übel, dass sie in der Finanzkrise genau so hilflos waren wie die Notenbanker oder die Politiker. Dem Philosophen sieht man diesen Mangel an praktischer Umsetzbarkeit gerne nach. Philosophen sollen denken. Sie müssen nicht liefern.

Robert J. Shiller: Märkte für Menschen. So schaffen wir ein besseres Finanzsystem. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2012. 376 Seiten, 34,99 Euro.

Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 304 Seiten, 19,99 Euro.

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