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Kultur: Wie es euch missfällt

Deutschlands Theater zwischen Finanzchaos und Legitimationskrise: Weil die Bundesländer und Kommunen pleite sind, muss sich in den 150 öffentlich subventionierten Häusern etwas ändern. Aber was? Verdi will mehr Geld, andere möchten das System unter Denkmalschutz stellen

Ein Herz für Schmiere? Im brandenburgischen Städtchen Schwedt hat der Verein der Freunde und Förderer der Uckermärkischen Bühnen kürzlich die Einrichtung von „Theaterschutzgebieten“ gefordert – aus Sorge um den Bestand der Subventionslandschaft. Solche Hilferufe, die leicht bizarr wirken, häufen sich. Auch in der Hauptstadt. Antje Vollmer, grüne Bundestagsvizepräsidentin, hat angeregt, das weltweit einzigartige deutsche Theatersystem unter den ideellen Schutz des Unesco-Weltkulturerbes zu stellen. Und vergangenen Dezember übergab eine Expertenkommission Bundespräsident Johannes Rau in Berlin ein Papier „Zur Zukunft von Oper und Theater in Deutschland“.

Dieser „Zwischenbericht“ liest sich wie ein Feuerwerk bürokratischer Sprechblasen, und die Idee von einem „Bündnis für Theater“ verspricht kaum mehr Erfolg als Kanzler Schröders „Bündnis für Arbeit“. Inzwischen haben Kulturstaatsministerin Christina Weiss und Jürgen Flimm, der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, den Ausstieg der Theater aus dem öffentlichen Dienst gefordert. Die automatischen Tariferhöhungen fressen die künstlerischen Mittel auf. Nach dem mit Verdi (die Gewerkschaft sollte besser Wagner heißen – Götterdämmerung!) ausgehandelten Abschluss kommen auf die Bühnen in den nächsten zwei Jahren Mehrbelastungen von rund 85 Millionen Euro zu. Mit dieser Summe könnte man ein Jahr lang Staatsoper und Deutsche Oper Berlin finanzieren. Sozialstaat und Kulturstaat geraten in einen Idealkonflikt.

In Deutschland gibt es rund 150 öffentliche Theater mit festem Ensemble. Erleben wir bald ein Theatersterben, vergleichbar dem Waldsterben? Oder handelt es sich um eine neue Spielart der german angst, um Besitzstandswahrungshysterie und Jammertöne auf sehr hohem Niveau? Es beschleicht einen ja immer ein unbehagliches Gefühl, wenn das Theater nicht mit seinen ureigenen Kunstmitteln Aufmerksamkeit fordert, sondern den sekundären kulturpolitischen Diskurs strapaziert – wie es in der Berliner Opern- und Ballettdiskussion bis zum Überdruss vorerxerziert worden ist.

Die Lage scheint kurios und bedrohlich zugleich. In Freiburg, Bielefeld und Aachen, in Hamburg und Bremen, in Köln und Frankfurt sehen sich die Bühnen landauf, landab mit (Sparten-)Schließungen und Kürzungen konfrontiert, die an die Substanz gehen. Die Theater gehören in den Städten zu den Wahrzeichen der Urbanität. In Bielefeld ergibt sich symptomatisch die Absurdität, dass man ein Jugendstiltheater für mehr als 20 Millionen Euro renovieren will und gleichzeitig über die Schließung der Schauspielsparte nachdenkt. In Freiburg muss die neue Intendantin Amélie Niermeyer den Etat bis 2005 von 14, 3 auf 11 Millionen Euro reduzieren – und wird wegen der Fixkosten am Ende kaum noch spielen können.

Werden die Schauspielhäuser zu leeren Gehäusen wie die Gotteshäuser – während Festivals wie Pilze aus dem Boden schießen? Das deutsche Theatersystem, dessen Wurzeln bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen und das nach dem Zweiten Weltkrieg in West und Ost zu einem Welttheater-Reich ausgebaut wurde, wankt in seinen Grundfesten. Und dennoch: Schaut man zum Beispiel nach Bochum, Hannover oder auch nach München, wo im März die jahrelang renovierten Kammerspiele eröffnet werden, so stellt man fest: Intendanten wie Frank Baumbauer, Matthias Hartmann oder Wilfried Schulz strafen die Krise Lügen. Es geht noch.

So schwer die finanzielle Bedrückung sein mag – ebenso gefährlich ist die Legitimationskrise, die das Theater allgemein erfasst hat. Wozu und zu welchem Zweck gibt die Gesellschaft zwei Milliarden Euro für die Bühnenkünste aus, selbst wenn diese Kulturmittel die Winzigkeit von 0,2 Prozent aller öffentlichen Ausgaben darstellen? Sind 20 Millionen Theaterbesucher jährlich nicht schon Legitimation genug? Muss das deutschsprachige Theater, das echte Armut nur aus sozialkritischen Stücken kennt, sich immerzu wie Hamlet zerquälen und in Untergangsfantasien schwelgen? Derzeit ist rasche Reformbereitschaft in den Theatern nicht erkennbar – da ist das Theater ein treuer Spiegel der Gesellschaft.

„All the world’s a stage“: Shakespeares berühmter Satz ist auf unerwartete Weise Realtität geworden. Schon in den 80er Jahren schrieb der Theatertheoretiker Martin Esslin: „Durch die fotografischen und elektronischen Massenmedien hat unsere Zeit eine wahre Explosion von Drama erlebt. Wo früher Bühnendrama, ,Live-Theater’, die einzige Möglichkeit zur Übermittlung einer dramatischen Aufführung war, kann diese ihr Publikum heute auf vielen Wegen erreichen: durch Kino, Fernsehen, Video, Radio.“ Ein simpler, aber durchschlagender Befund. In der Zeitschrift „Theater heute“ konstatierte Christoph Schlingensief jüngst: „Politik, das ist schon lange Theater. Und sie schickt sich an, sogar das bessere von beiden zu werden“. Die ganze Welt ist eine Bühne, und die Bühne, die serenissima, geriert sich wie ein sterbendes Venedig. Der schönste Platz der Welt, dem Untergang geweiht.

Ältere Theaterstars vor allem fiedeln selbstherrlich auf diesem Bogen. Bei der Eröffnung einer Fritz-Kortner-Ausstellung in Berlin nörgelte Peter Stein kürzlich, er wolle sich über den Zustand der Theaterkunst nicht auslassen. Wenn er an die Schaubühne denke, werde ihm schlecht. Die Pflege der Sprache, der Dichtung, sei der einzige Existenzgrund der Theater. Und: Ein Regisseur müsse so inszenieren, wie es der Dichter gemeint hat. Dann geschah etwas Merkwürdiges: Das Vernissagen-Publikum in der Dresdner Bank am Pariser Platz sah einen Filmausschnitt aus Steins „Drei Schwestern“, Schaubühne anno 1984, mit Kortners Lebenspartnerin Johanna Hofer und mit Otto Sander. Als der brummte, alles müsse einmal ein Ende haben, hörte man eine Stimme aus dem Zuschauerraum: „Eon, Eon!“. Die Fernsehwerbung für einen Energiekonzern überlagert Tschechow – und die Frage, wem Sanders sonore Stimme gehört, scheint müßig.

Was uns die Dichter sagen wollten – man kann es nicht wissen. Nicht auf einer für alle und jede Zeit gesicherten Basis. Hier liegt ein Dilemma des Theaters: Alte Texte werden allzu leicht ins Museum gestellt oder unseren Talkshow-MTV-Soap-Erfahrungen angepasst. Es ist das Paradox der Dramaturgie (und nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Dramaturgen wie im deutschsprachigen Theater): Einen Klassiker der religiösen Toleranz wie Lessings „Nathan der Weise“ muss man heute zwangsläufig als Kriegsmenetekel für den Nahen Osten sehen, und zugleich stößt diese journalistische Sichtweise auch ab, erscheint wohlfeil rangeschmissen.

Sind es die besserwisserischen Dramaturgen und die bürokratischen Bühnengewerkschafter, die das Theater in die Zange nehmen? Bei Tom Stromberg in Hamburg und Elisabeth Schweeger in Frankfurt kommt noch ein Paradox hinzu: das des experimentierlustigen, in Festival-Dimensionen und alt-avantgardistischen Begriffen denkenden Intendanten. Große Schauspielhäuser vertragen offenbar innovative KleinKunst und Performance-Theater (von gestern) auf Dauer schlecht. Die Lust auf ewig Neues hat einen experimentellen Mainstream erzeugt, der öde geworden ist.

Es gibt Ausnahmen: Jürgen Gosch hat am Deutschen Schauspielhaus Hamburg Roland Schimmelpfennigs neues Stück „Vorher/Nachher“ mit selten gesehener schauspielerischer Präzision uraufgeführt, auf nahezu leerer Bühne. Ibsens „Nora“ an der Berliner Schaubühne funktioniert in Thomas Ostermeiers Adaption trotz einiger Übertragungsprobleme als zeitgenössischer Bürger-Klassiker. Michael Thalheimer führt am Deutschen Theater Berlin und am Thalia Theater Hamburg mit radikaler Härte Klassiker-Skelette vor, die wir mit unseren Fantasien ummanteln und beleben. Solch geglückte Unternehmungen sind rar. Doch das Theater wird permanent mit einem totalen Glücks- und Kunstanspruch konfrontiert – wie der Buchmarkt und die Pop-Industrie. Doch ein Theaterbetrieb ist keine Hitfabrik.

Man ist versucht zu sagen: Das Theater muss wieder erheblich sein. Es soll sich nicht wichtig, sondern substanziell machen. Zuletzt ist das wohl dem Wiener Burgtheater gelungen mit einer ungewöhnlichen Konzentration gediegener bis genialer Regisseure (plus tollen Akteuren und einem konkurrenzlosen Budget): Peter Zadek, Luc Bondy, Andrea Breth. Die andere feste Burg ist die Berliner Volksbühne. Seit Jahren werden hier in vorauseilendem Katastrophen-Entertainment das Elend des Turbo-Kapitalismus, das Ende der Ost-Romantik, die globale Ersatzreligion USA durchexerziert. Und nun hat die Welt die Volksbühne eingeholt. Noch einmal legen Castorf, Pollesch und Schlingensief vor. Vergraben sich in metaphysische Grübeleien, treffen den Nerv einer Zeit, die sich selbst nicht mehr kennt und vor überwunden geglaubten Triebkräften erschrickt: Religion, Kriegslust. Der Autor der Stunde wäre Heiner Müller. Doch sind seine Texte seit seinem Tod auf mysteriöse Weise von den Spielplänen verschwunden.

Die Volksbühne ist als Vorhut in ihrer fundamentalistischen Phase angekommen. Der exzessive Einsatz von Videotechnik auf der Bühne und der Rückgriff auf Filmstoffe wirkt zugleich à jour und wie ein Versteckspiel. Es funktioniert als Verstärker der schauspielerischen Protagonisten wie auch als Selbstzweifel. Neu ist das alles nicht. Schon vor zwanzig Jahren erklärte der (früh verstorbene) Kritiker und Regisseur Ernst Wendt: „Wie es euch gefällt, geht nicht mehr.“ Nur war damals – die Mauer stand noch, die Kassen waren voll – das Krisenbewusstsein weniger ausgeprägt.

Aber wie gefällt es uns denn? Leere öffentliche Kassen, ein Theater auf der Suche nach sich selbst und den Themen der Zeit, dazu eine gehörige Prise Künstlerarroganz aus alten, besseren Zeiten – das ist die Suppe, in die alle spucken und die keiner auslöffeln will. Ruft man dieser Tage bei einem der bedrohten Theater zwischen Aachen und Zwickau an und fragt nach Informationen, dann bekommt man oft genug als Auskunft: „Der zuständige Kollege ist gerade nicht da, kommt in zwei Stunden wieder.“ Vielleicht ist die Vision von den „Theaterschutzgebieten“ bereits Wirklichkeit, und das Theater hat sich selbst eingesperrt: Schaut sie euch an, die Exoten. Füttern verboten, die beißen auch nicht. Die wollen nur spielen?

Rüdiger Schaper

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