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Kultur: Wie küsst der Liebe Mund den Hund und tut es kund?

Heute erhält Alexander Kluge den Georg-Büchner- Preis. Ein Portrait des Poeten, Juristen und Medienkünstlers als Welt-Erzähler

Keine Scherze, keine Spiele mit Namen. No jokes about names, das ist eine eherne Regel im Journalismus. Aber sie gilt, wie alle ehernen Regeln, nur mit Ausnahmen. Zumal, wenn sich Bericht und Erzählung, Fakten und Fiktionen in einer Person und ihren Rollen und Werken so kreuzen wie bei Alexander Kluge. Dem Schriftsteller, Juristen, Historiker, Filmemacher, Fernsehveranstalter und poetischen Philosophen, der heute Nachmittag zur allgemeinen Überraschung in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis erhält.

Eine Überraschung, weil alle glaubten, dass einer wie Kluge, der die geistige Gegenwart seit vier Jahrzehnten prägt, diesen besten deutschen Literaturpreis natürlich längst irgendwann erhalten habe. Und der Name? Wenn der lateinische Satz nomen est omen je zutraf, dann auf diesen Menschen. Er selbst glaubt ja auch nicht an Zufälle. Nur an Fälle – die sich im Leben und in der Geschichte (Kluge: „Kausalketten marschieren getrennt“) oft über Jahrhunderte hinweg als „Parallelwelten“ assoziieren oder zu untergründigen Netzwerken verbinden. Also ist es jenseits aller Namensspiele ein Indiz, ein erstes Beweismittel, dass dieser jetzt 71-jährige Künstler-Jurist einst auf den Namen des ersten antiken Welteroberers getauft ist: jenes in den kriegerischen, wissenschaftlichen, künstlerischen Neigungen bereits global operierenden Alexanders.

Kein deutscher Dichter, ausgenommen wohl Hans Magnus Enzensberger, denkttatsächlich so global über alle Disziplinen und kulturellen Topographien hinweg wie Alexander Kluge. Wobei das Attribut „global“ hier etwas anderes meint als das Wort „kosmopolitisch“. Es geht im Fall Kluge um einen dynamischen Erkenntnistrieb und die grenzüberschreitende Erfahrungslust, nicht nur um die moralisch gesetztere Kategorie des Weltbürgerlichen. „Der Kopf ist rund, damit er in viele Richtungen denken kann“, hat der spanische Maler Francis Picabia gesagt. Und der neue Büchner-Preisträger, der so zutreffend unzufällig – Beckett: „Im Anfang war der Kalauer“ – den Scherz „klug, klüger, Kluge“ generiert, er ist solch ein Rundumdenker.

Apropos Krieg, Wissenschaft und Kunst. Alle drei gehören motivisch zu seinem Werk. Alexander Kluge ist zwar ein völlig unmartialischer Mensch, ein Sanftäugiger mit einem derart freundlichen Timbre, dass man bei ihm stets ein mitschwingendes Lächeln hört: nicht nur im direkten Gespräch, auch bei Kluges Erzähl- und Kommentarstimme in seinen Fernseh-Magazinen oder den vielfach preisgekrönten, schon mit ihren Titeln in unseren Sprachschatz übergegangenen Spielfilmen „Abschied von gestern“ (1966) oder „Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“, jener Sinnbild-Geschichte aus dem Jahr 1968. Das Wunderlichste, das Komische und das Fürchterlichste vermag er so heiter-melancholisch und mit stoischer Grazie zu erzählen, als würde Buster Keaton plötzlich anfangen zu reden.

Eindeutig ein Zivilist, ein Stadtbürger, in München lebend, doch völlig unmünchnerisch, ein gebürtiger Preuße aus dem vorharzländischen Halberstadt, später Gymnasiast in Berlin. Doch geprägt vom Krieg. Die Bilder vom lebensgefährlich nah erfahrenen Bombenangriff auf seine Geburtsstadt haben ihn nie verlassen. Der Krieg, die Kriege tauchen allezeit in seinen Büchern, Filmen, Magazinen auf, schon früh, vor anderen, schaut Kluge auf den Luftkrieg oder Stalingrad in seinem Epos „Schlachtbeschreibung“ (1964/83). Andererseits ist er auch deshalb Jurist und Anwalt geworden, „um Frieden zu stiften“. Kluge, der zudem Kirchenmusik studierte und Philosophie bei Adorno, der in Frankfurt als junger Syndikus des Adorno-Horkheimerschen Instituts für Sozialforschung agierte, er war nie Prozessanwalt. Sondern einer, der Versöhnung und möglichst unverbrüchliche Verträge stiften und überwachen will. Dafür gilt ihm die Jurisprudenz als „moderne Bewaffnungsform“. Das heißt, der zivilrechtliche Künstler benützt gerne militärstrategische Metaphern.

„Auf der Brücke“ – Kluge meint die Kommandobrücke eines Schiffs – „herrscht das ,Sie’.“ Diese Antwort kommt, als ich ihn frage, warum er neben anderen engen Mitarbeitern auch seinen vertrauten Lektor Christoph Buchwald siezt; immerhin hat er mit ihm bei Suhrkamp seine 2000-seitige „Chronik der Gefühle“ komponiert, und obwohl Buchwald inzwischen einen eigenen Verlag in Amsterdam leitet, hat er Kluges jüngstes Großwerk „Die Lücke, die der Teufel läßt“ (950 Seiten) mit betreut und tritt mit dem Autor als Dialogpartner und Ko-Referent bei Lesungen auf. Ein eingespieltes Paar, doch kulturbetriebsunüblich weiter per „Sie“. Kluge lacht sein Lächeln auf die Frage: „Adorno bot ganz schnell das ,Du’ an. Das liegt mir nicht. Ich sieze mich außerhalb der Familie mit allen Menschen, die ich besonders respektiere. Das steigert die Bewegungsfreiheit.“

Was bei Kluge nicht heißt: den schnellen Wechsel oder die Untreue. Er braucht Verlässlichkeit – und gleichsam operative Distanz. Das gilt auch für die eigene Person. Denn er ist ein Erzähler, der in seiner Kunst nie „ich“ sagt (sein Wunsch: „Ichlose Vielfalt!“) und der selten mit ins Bild tritt. Selbst persönliche Begegnungen mit ihm sind rar. Er sagt „ich bin sesshaft“ und lebt und arbeitet in München-Schwabing auf engstem Radius. Um Zeit zu haben für seine Bücher, die er mit dem Bleistift schreibt und dann diktiert; um möglichst unabgelenkt in die Welt und das Universum des Wissens zu schauen. Für die Kulturmagazine seines nächtlichen, mit antizipierender Phantasie und juristischer Raffinesse eroberten Privatfernsehreichs (bei RTL, Sat.1 und Vox) lässt er oft wochenlang im voraus produzieren, für ihn, den unablässigen Inspirator, arbeiten rund 30 eingespielte Kräfte, sein vor 40 Jahren gegründetes Unternehmen „Kairos Film“ sitzt im Stockwerk unter der Wohnung, in der er schreibt und mit seiner Frau und den beiden 18- und 20-jährigen Kindern lebt; das Filmkopierwerk, das seit frühen Fassbinder-Kluge-Herzog-Zeiten idolisierte Schwabinger „Arri“, liegt 500 Meter entfernt, und das Büro seiner Düsseldorfer Produktionsfirma DCTP (Development Company for Television Programms) , sagt er, „betrete ich nie“. Die Mitarbeiter dort steuere er „telekommunikativ“. Und selbst Interviews und Hintergrundgespräche führt er am liebsten am Telefon.

Das freilich ist für den Gesprächspartner meist anstrengender als die leibhaftige Begegnung. Wer nur einmal richtig, das heißt trotz aller Zeitökonomie anderthalb Stunden mit Alexander Kluge telefoniert hat, weiß, was es bedeutet, die Sirenengesänge einer quecksilberhell und -schnell zwischen allen Zeiten, Wissenschaften, Kulturen springenden Weltbildung als verwirrend wunderbares Rauschen im Kopf zu haben. So bestürzend wie beflügelnd.

Alexander Kluge schreibt und filmt nicht in gewohnter Schlachtordnung. Er ist ein Partisan des Geistes, er arbeitet nicht nur mit intuitiven Lieblingssätzen („Der Liebe Mund küsst auch den Hund“), mit historischen Zitaten oder erfundenen Wahrheiten, also mit den konventionellen Sprengsätzen im Kampf der Erzählkulturen. Kluge verwendet auch taktische Phantomwaffen – wo längst nicht mehr klar ist, was Fakten und was Fiktionen sind. Das macht auch das Beunruhigende und manchmal bis an den Rand der intellektuellen Hochstapelei Belustigende seiner Fernsehgespräche mit realen Experten oder Schauspielern als Experten aus (nachzulesen sind die „Facts & Fakes“ in der gleichnamigen Heftreihe des Berliner Vorwerk 8Verlages).

Dabei kreist der Geisteskopf in seinen Werken nicht allein um eine „Chronik“, vielmehr um eine Anamnese der Gefühle. Kluge spürt auch im großen jüngsten Buch von der „Lücke, die der Teufel läßt“ der Politik und geheimen Macht, ja, der Veränderungskraft der Emotionen nach. Das geschieht in meist kurzen, thematisch verwobenen oder kontrastierenden Geschichten samt angehängten Kommentar-Dialogen (als sokratischen, Diderot’schen Fußnoten). Hinzutritt das unterkühlt ironische Pathos Kleistscher Moritaten und Philosopheme. Und dies: im Schatten der kollektiven Gewissheits-Erschütterungen nach dem 11. September 2001, im Zeichen von neuen „asymmetrischen“ Kriegen und weltweiten Veränderungen geistiger, kultureller Gravitationen.

Doch warum könnte gerade das Gefühl diese Lücke, diesen Ausweg aus teuflischen Verstrickungen und Verhängnissen bieten? Kluge antwortet nicht mit dem üblichen Verweis auf die Erschöpfung von Ideen und Utopien, auf die Verheerungen oder Schwächungen der Aufklärung, seit dem Holocaust, dem Gulag, den neuen alten Kriegen. Er bleibt ein Mann nicht des gesunden, wohl aber des heillos unersetzbaren Menschenverstandes. Aber er weiß, dass die Argumente des Kopfes zu oft nicht weiterhelfen. Sein Urerlebnis bleibt dabei die Scheidung seiner Eltern mitten im Krieg. Er habe damals als zehnjähriges Kind „vergeblich alles Denkbare angestellt, Vater und Mutter wieder zusammenzubringen“. Offenbar ist dann aus einem früh verletzten Gefühl für das Liebesmögliche und Rechtsnotwendige der Poet und der Jurist gefolgt, der ernstlich lächelnd meint: „Heute hätte ich diese Scheidung verhindert. Heute hätte ich dazu die Verführungskunst.“

Denn er hält sich für einen Experten und Forscher auf dem Felde der „Schwerkraftverhältnisse des Gemüts“. Auch sei „ein Gedanke nur eingedickte Emotion“. „Ich möchte“, sagt Alexander Kluge in unserem Gespräch, „dass man etwas auf die Gefühle gründen kann.“ Politik, Frieden, Liebe, Ehe, Verträge der Treue. Damit verschreibt er sich allerdings nicht den psychologischen Innenräumen des bürgerlichen Romans (und Subjekts). Nach Proust könne man hier nichts mehr Neues entdecken. Kluges Erzählräume und Teufelslücken liegen eher dort, wo die modernen Naturwissenschaften, Physik und Biochemie, als Verheißung, Metapher oder, 2000 Jahre nach Ovid, als Möglichkeit heutiger Metamorphosen dienen.

Kluge berichtet und fabuliert im Buch, im Gespräch und jetzt in seiner Büchner-Preisrede mit der ihm eigenen sanft-besessenen Begeisterung beispielsweise von den Zellen, „die in ihrem Gencode, das heißt den Büchern, die sie mit sich führen, lesen, dass sie alles vergessen sollen, außer Augenzellen zu sein“. Obwohl sich ihr Rohstoff durch nichts von den übrigen Zellen des Körpers unterscheide, eröffnen sie und nur sie die Möglichkeit, „das Sonnenlicht zu sehen und die Farben“. Kluge selbst sieht in der Kneipe des Auges den Stammzellentisch der fröhlichen, aber seriösen Wissenschaft: „Was für eine Disziplin, was für ein Gemeinsinn, was für eine Öffentlichkeit, was für eine Innerlichkeit, reich an Auswegen!“

Ähnlich rühmt er das Ingenium von – erfundenen oder realen? – Wissenschaftlern, die Siliziumplättchen mit den Neuronen von Nacktschnecken amalgamieren, um Roboter zu beschleunigen, oder denen zweizellige Wimperntierchen („die sind im Ozean wie in jeder Träne“) mit ihrem 180 Millionen Jahre alten Gedächtnisspeicher dazu dienen, um neue Parallelrechner zu schaffen. Kluge: „Das sind Märchen, die die Naturwissenschaft erzählt. Goethe oder die Brüder Grimm wären davon entzückt gewesen!“

Die Natur sei „ungewöhnlich poetisch“ – da sieht sich der promovierte Jurist und (im Wortsinne) Science-Fiction-Autor A.K. auch mit dem Namenspatron des Büchner-Preises verbunden: mit dem früh verstorbenen Geniedichter, der zugleich Mediziner war und über die Schädelnerven der Barben promovierte.

Ähnlich wie sein Freund und Suhrkamp-Kollege Jürgen Habermas sieht er zwar die Drohungen der neuen Naturwissenschaft (Klone, Androiden) als politisch und juristisch bedenklich an. „Aber ich reagiere hier, anders als Habermas, nicht nur diskursiv, sondern poetisch.“ Und weil man das einmal Gedachte nie ganz zurücknehmen oder gar verbieten könne, „müssen wir besser und schneller erzählen als die Naturwissenschaften“. Dann, sagt Kluge, „haben wir noch eine Chance“. Es ist die Lücke, die der Mensch noch lässt.

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