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Kultur: Wie wir wurden, was wir sind

2000 Jahre Geschichte in 8152 Objekten: Das Deutsche Historische Museum Berlin eröffnet heute endlich seine Dauerausstellung

Irgendwann kommt der Ort selbst ins Bild: Das Zeughaus, 1706 als preußische Waffenkammer vollendet, erscheint auf einer Ansicht der Straße Unter den Linden von 1785. In diesem Waffenhaus des erstarkenden Preußen eröffnet Bundeskanzlerin Angela Merkel heute die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM), die zwei Jahrzehnte – und mehrjährige Terminverschiebungen – zu ihrer Realisierung benötigte.

Auf diesem kleinen Gemälde kommt Berlin ins Spiel, recht unscheinbar noch. Es ist wie ein Symbol der Ausstellungskonzeption. Denn die Dauerausstellung unter dem Titel „Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen“ will die Geschichte der Deutschen erzählen, aber bis sie dort anlangt, was man landläufig unter deutscher Geschichte versteht, ist es ein sehr weiter Weg. Er beginnt mit der Römerzeit, mit einigen Fundstücken vom Ort der Herrmannsschlacht, er geht schnell über das Mittelalter hinweg, fast bekommt man die Gründung des Deutschen Reiches nicht mit. Als „Heiliges Reich“ wird es ohnehin erst seit 1157, als „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ gar erst seit 1474 bezeichnet. Zu dieser Zeit bildet sich ein regelrechter Kult um Karl den Großen heraus, der hier in einem Idealporträt der Dürer-Werkstatt zu sehen ist. Da hat sich ein städtisches Bürgertum entfaltet, streiten Fürsten und Städter um Privilegien, gibt es Handel und Wandel, steht auch schon die Reformation bevor.

Von Deutschland ist bis dahin keine Rede. Gewiss von deutschen Orten, vom Alltagsleben – wie in den zauberhaften vier Augsburger Jahreszeitenbildern aus dem frühen 16. Jahrhundert –, von Luther und Melanchthon; aber bis dahin doch eher von Kaiser Karl V. – der deutsche Lande nur auf Durchreise durch sein Weltreich betrat – und Papst Leo X., die in prachtvollen Bildnissen vorgestellt werden. Sind die Harnische, die Helme und Brustpanzer, die Pferderüstungen der Ritterschaft typisch deutsch?

Natürlich nicht. Sie sind europäisch. Was das DHM in seinen beiden Hauptgeschossen mit 8152 Objekten auf 8000 Quadratmetern Fläche erzählt, ist eine europäische Geschichte, die sich von der Geografie deutscher Lande aus umschaut, aber ebenso den Vogelflug über ganz Europa unternimmt, wo es die Ereignisse gebieten. Ist die Türkenbedrohung – hier mit einem osmanischen Zelt aus der „Türkenbeute“ versinnbildlicht – ein Ereignis der deutschen Geschichte? Wird der habsburgische Kaiser, dessen Hauptstadt Wien die türkische Belagerung galt, heute überhaupt als deutscher Kaiser, dessen Titel er doch trug, wahrgenommen oder eher doch als Österreicher?

Ganz selbstverständlich erwähnt die Ausstellung in ihren als optische Haltepunkte eingestreuten Infosäulen einmal die „Verdrängung Österreichs aus Deutschland“. Doch das ist eine ex post-Konstruktion jener Zeit, da der deutsche Dualismus – noch so ein Begriff – sich in zwei Kaiserreichen manifestiert hatte, mit der deutschen Reichsgründung 1871 im Spiegelsaal von Versailles.

Das war immerhin einst das politische Zentrum einer weiteren Macht, die für Deutschland über Jahrhunderte hinweg bestimmend war, als bewundertes Vorbild der Aristokratie wie als brutaler Angreifer etwa im Pfälzischen Krieg. Nebenbei teilen sich beide Länder, Deutschland und Frankreich, ihren Ahnherren, Karl den Großen hier und Charlemagne dort. Dass er in Aachen seinen Sitz nahm, mag die Waage zu deutschen Gunsten neigen; aber Aachen ist zugleich ein Grenzort.

Welche Grenzen? Was der Besucher im Obergeschoss, das von 100 v. Chr. bis 1918 den Löwenanteil der Chronologie abdeckt, beständig erfährt, ist die Relativität der Territorialgrenzen, die mal hier-, mal dorthin verschoben werden; das Kommen und Gehen der Landes- und Lehnsherren, der beständige Wandel der europäischen Landkarte. Deutschland, wie immer man es umreißen mag, hat darin eine bittere Rolle übernehmen müssen, mit der die Traditionen zerreißenden Reformation und später dem Dreißigjährigen Krieg, der das Land um ein Drittel seiner Bevölkerung dezimierte und auf Generationen hinaus zurückwarf. Da hat er seinen Ursprung, der berühmte „deutsche Sonderweg“, um den es seit 1989/90 so still geworden ist, weil er, wie alle Politik beschwört, eingemündet sei in den Strom der europäischen Einigung, die wir heute als selbstverständlich erleben.

Was hat es nicht für ein Aufhebens um die Pläne eines deutschen Geschichtsmuseums gegeben, in den Achtzigern, als derlei Pläne nach dem unerwarteten Boom von Geschichtsausstellungen – gipfelnd in der großen West-Berliner Preußen-Schau von 1981 – Gestalt anzunehmen begannen. Unter mancherlei Verrenkungen wurde das Projekt auf den Weg gebracht. Befehdet wurde es, weil die Idee einer auch nur im Entferntesten nationalen Geschichtsbetrachtung nach dem Nazi-Regime schlichtweg verwerflich schien. Als „Kanzlermuseum“ wurde das DHM geschmäht, da Helmut Kohl es an einem stürmischen Oktobertag des Jahres 1987 gründete, im Reichstag, von dem kein Mensch ahnen konnte, dass er noch einmal die Bühne des deutschen Parlamentarismus abgeben würde.

Damals wurde ein großer Architekturwettbewerb ausgeschrieben, den Aldo Rossi gewann, der eine Art Industriekathedrale ungefähr an die Stelle des heutigen Kanzleramtes gesetzt hätte. „Ich glaube nicht,“ – formulierte es Richard Löwenthal beim Gründungsakt – „dass ein gesundes Urteil über die großen Fragen der Politik ohne Kenntnis der Geschichte möglich ist.“ Dies war das Credo der Sachverständigen, die das Projekt mit viel Papier auf den Weg brachten. Dabei bestand doch die Hürde darin, genügend Objekte zu finden, wo man den Markt durch die bestehenden Museen bereits restlos abgegrast wähnte. „Disneyland“ fiel als böses Wort, weil man Ersatz befürchtete, wo sich tatsächlich in knapp zwei Jahrzehnten ein überwältigender Reichtum an Originalen gefunden hat, die mit der Aura des geschichtlichen Zeugnisses strahlen. Und hinter allem stand die Furcht vor einer staatlich verordneten Identität.

Nichts von Re-Nationalisierung ist im DHM zu sehen. Oder vielleicht doch: in dem Maße, welches der Abstand hervorbringt, der mittlerweile auch zu den Urkatastrophen des 20. Jahrhunderts angewachsen ist. Dem 20. Jahrhundert hat das Ausstellungsteam um Hans-Jörg Czech das ganze Untergeschoss gewidmet, als ob unsere Nationalgeschichte vor allem eine der jüngeren und jüngsten Vergangenheit sei. Das ist sie nicht, die Abteilungen zu Reformation, Dreißigjährigem Krieg, Französischer Revolution, zu Paulskirche und Kaiserreich im Obergeschoss machen es hinlänglich deutlich. Aber dem Empfinden der Besucher, zumal der nicht-deutschen Besucher nach ist das 20. Jahrhundert auf eine furchtbare Weise das „deutsche Jahrhundert“ geworden.

Und da befällt den Betrachter denn doch ein gewisses Unbehagen. Ab dem Ersten Weltkrieg herrscht in Deutschland Krieg, lautet augenscheinlich die Botschaft. Die Weimarer Republik schrumpft zu einem Jahrdutzend von Straßenkämpfen sozial entwurzelter Verlierer, die in paramilitärischen Verbänden Zuflucht suchen. Ausgerechnet der „Vertiefungsraum“ mit den bewundernswerten sozialen und kulturellen Leistungen dieser Zeit, derer wir uns heute mit berechtigtem Stolz erinnern, bleibt aus baulichen Gründen vorerst unrealisiert.

Umstandslos kommt in der Ausstellung das „Dritte Reich“ mit seiner gewaltigen, erstaunlich breit dargestellten Propagandamaschine daher, mit Hitlers riesigem Schreibtisch und dem Modell der megalomanen „Volkshalle“ in Berlin-Germania. Welchen tiefen Zivilisationsbruch dieses Regime bedeutete, hätte aus der pointierten Gegenüberstellung mit der gewiss zerrissenen, aber eben doch so fruchtbaren Weimarer Zeit deutlicher werden können – und müssen.

Schon sind wir im nächsten Krieg, minuziös und oberkorrekt nachgezeichnet als Eroberungs- und Vernichtungskrieg, verschränkt mit dem Völkermord, dessen Planung von Anbeginn an die Triebfeder der NS-„Lebensraum“-Politik bildete. Plakate und Aufrufe beherrschen diese Sektionen. Mit Waffen haben sich die Ausstellungsmacher erfreulich zurückgehalten, um Objekte wie ein Flakgeschütz oder ein rostiges V2–Triebwerk umso wirkungsvoller einzusetzen. Im parallel zum Kriegsgeschehen aufgeblätterten Kapitel Völkermord führt der Weg zu jenem grauslichen, bis ins Detail gehenden Gipsmodell eines Vernichtungslagers, das dem Betrachter nicht einmal den Blick in die Gaskammern im Moment des massenhaften Mordens erspart.

Knapp angerissen wird die Nachkriegszeit mit dem baldigen Zerwürfnis der Anti-Hitler-Koalition. Und in ein einziges Kapitel gerafft wird die Zeit von 1949 bis 1989, wiederum höchst korrekt dargestellt als Parallelerzählung der beiden deutschen Staaten, gipfelnd in der optisch so nahe liegenden Gegenüberstellung von Volkswagen-Käfer und Trabi, von West-Konsum und Ost-Konsum. Als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, wie der Soziologe Helmut Schelsky bereits 1953 die junge Bundesrepublik diagnostizierte, kommen beide deutsche Teilgesellschaften daher. Auch in ihrem kulturellen Überbau, der sich auf einer Zwischengalerie drängeln muss, ähneln sich die verfeindeten Brüder. Da ist ein bisschen viel Ausgewogenheit im Spiel, vielleicht dem Ort des Zeughauses geschuldet, das immerhin 38 Jahre lang das DDR-„Museum der Deutschen Geschichte“ beherbergte.

Der Rundgang durch 27 Kapitel endet im kleinen Annex der Wiedervereinigung – zu frisch vielleicht noch, um bereits museal dargestellt zu werden. Direkt vor dem Ausgang hängt eine Collage von Christo zur Reichstagsverhüllung 1995. Mit diesem heiteren Bild endete buchstäblich das alte Nachkriegsdeutschland.

Was die deutsche Geschichte ist, weiß man mit dieser Dauerausstellung besser, plastischer als zuvor. Denn sie ist tatsächlich ein Amalgam, das erst spät und in Handlungen zielgerichteter Politik zur Nationalgeschichte gerann. Man wird Einzelnes an dem herkulischen Unternehmen des DHM bekritteln, wie die Macher manches im Lauf der Zeit modifizieren werden. Aber der europäische, supranationale Grundansatz ist so richtig, wie er 1987 war und im Jahre 2006 nur sein kann. Die „große Erzählung“, wie sie als Nationalgeschichte in glücklicheren Nationen so selbstverständlich ist, bleibt uns mindestens mit Blick aufs 20. Jahrhundert im Halse stecken. Und doch ist der DHM-Parcours eine glänzende Bestätigung seiner Gründer, die wussten, dass es ohne Kenntnis der eigenen Herkunft keine gestaltbare Zukunft geben kann.

Zeughaus, Unter den Linden 2, ab 3. Juni täglich 10–18 Uhr. Museumsführer im Prestel Verlag, 9,95 €. – www.dhm.de

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