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Kultur: Wieder werkwärts

Rainald Goetz besichtigt mit „Elfter September 2010“ die nuller Jahre. Eine Berliner Buchpremiere

Wer Rainald Goetz in den vergangenen Jahren auf Ausstellungseröffnungen, in Kneipen oder Clubs traf, musste stets damit rechnen, von ihm fotografiert zu werden. Wie sein Notizbuch gehört eine Kamera zu den obligaten Ausgeh-Accessoires des vor allem auf die Gegenwart fixierten Schriftstellers. Mit der Kamera lässt sich diese noch besser kontrollieren als mit dem Stift, und so sind Fotos integraler Bestandteil seines dichterischen Werks. Wie zum Beispiel in seinem Debütroman „Irre“ von 1983, der zahllose kleine Fotos enthält. Oder in dem von Christian Kracht Ende der neunziger Jahre herausgegebenen Erzählband „Mesopotamia“. Hierfür steuerte Goetz eine Fotogeschichte bei, „Samstag, 5 Juni 1999, Hotel Europa“, beginnend mit einem Blick auf die Bücher seines Schreibtischs und einem Ausriss der Niklas-Luhmann-Nachrufseite der taz.

„Elfter September 2010“ heißt nun, schön symbolisch aufgeladen, die neueste Arbeit aus der Goetz-Werkstatt. Dabei handelt es sich um einen Band mit Fotos aus dem Berlin der nuller Jahre, gegliedert in drei Kapitel, wie der Klappentext verrät, „die die unterschiedlichen Arten und Grade von Kaputtheit der damaligen Zeit behandeln“. So kaputt sieht das meiste allerdings gar nicht aus, weder die Szenen aus der Bundesversammlung und aus Berlin bei Tage noch die teils sehr guten Porträts und Schnappschüsse von Freunden und aus dem Nachtleben. Vielmehr sieht Goetz vermutlich die eigene zeitweise Kaputtheit in seinen Fotos gespiegelt, sind doch die frühen und mittleren nuller Jahre für ihn eine Zeit des Scheiterns gewesen, des Scheiterns an einem Romanprojekt aus dem Berliner Politikbetrieb. Der für Außenstehende in undurchschaubare Ordnungssysteme vernarrte Goetz deutet das mit den Titeln der drei Kapitel an: „In den Ruinen der Projekte“ heißt das erste, „Ruine“ das zweite, „Werkwärts 3&4“ (oder wahlweise „Werkwärts 2 & 3“) das dritte, das sich von 2008 bis 2010 erstreckt.

Tatsächlich geht es für den Dichter wieder Richtung Werk. Nach vielen buchlosen Jahren, in denen Goetz schon in den Ruf geriet, der Wolfgang Koeppen der Neuzeit zu sein, ist dieser Fotoband sein drittes Werk seit 2008, seit dem auf einem Blog für das Magazin „Vanity Fair“ beruhenden Tagebuchessay „Klage“. Diese Veröffentlichungen begeht Goetz mit seltenen öffentlichen Auftritten, die ihrerseits Eventcharakter haben und seine obsessive Gegenwartsbearbeitung auf wundersame Weise zurückspiegeln. Man könnte sagen, dass der Abend der „Elfter September“-Premiere unverzichtbarer Bestandteil des Bandes ist.

Donnerstag, 9. September 2010, 20 Uhr 30. Um diese Zeit kommen aus dem ehemaligen Finanzamt in der Pappelallee in Prenzlauer Berg, der Berliner Suhrkamp-Heimstatt, die ersten Gäste schon wieder heraus. Ralf Niemczyk und Sebastian Zabel sind nicht in „Fußballerstimmung“, wie sie Goetz noch 2008 in seinem Finanzkrisenprotokoll „Loslabern“ erlebte, sondern ernüchtert ob des Andrangs: „No fun at all“, bekümmert sich der Popjournalist Niemczyk. Die Räume im zweiten Stock des Gebäudes sind zu klein für die Veranstaltung, aus der Verlag und Autor im letzten Moment eine öffentliche gemacht haben. Wer nicht mindestens eine halbe Stunde vorher gekommen ist, muss sich mit einem Platz im Gang begnügen und kann kaum hören, wie Goetz einen Mix aus alten und neuen Texten vorträgt. Als „hysterisch“ bezeichnet er eingangs seinen letzten Auftritt im Edition-Suhrkamp-Laden im Mai, deshalb der abgelesene Textvortrag. Doch ein paar hysterische, chaotische Züge trägt auch dieser Abend. Nicht nur, dass viele sich zunächst nur mit der Ansicht der im Gang aufgehängten hochkopierten Zeitungsseiten und einem Konterfei von Springer-Chef Matthias Döpfner begnügen müssen – auch „Elfter-September-2010“-Exemplare gibt es noch keine. Sie wurden versehentlich von der Druckerei nach Frankfurt geschickt, dem alten Suhrkamp-Standort, und befinden sich in einem Sprinter-Lieferwagen auf der Autobahn Richtung Berlin.

So dauert es bis vor kurz vor elf, bis viele der Anwesenden sich davon überzeugen können, ob denn Porträts von ihnen in den Band Eingang gefunden haben. Der Musiker und DJ Westbam zum Beispiel, der ZDF-Nachtstudio-Moderator Volker Panzer oder der Journalist und Suhrkamp-Autor Detlef Kuhlbrodt. All das ist Teil der Inszenierung, Teil der gegenseitigen Gegenwartsbespiegelung. Nur dass zum Nachtleben und zur Kunst bei Goetz jetzt auch die Architektur, die Politik und die Stadt Berlin hinzukommen – und selbst Mitte, der bevorzugte Tummelplatz des in Berlin lebenden Schriftstellers, größer geworden ist und sich zu den Galerien in August- und Linienstraße die Bannmeile um den Bundestag gesellt hat. Oder die Charité, die einmal im untergehenden Sonnenlicht wie ein Sehnsuchtsort aussieht, nicht ohne Grund. Als das Scheitern an dem Politikbetriebsroman nicht aufhören wollte, nahm Rainald Goetz hier kurzzeitig, wie er dem „Zeit“-Magazin“ verriet, an einem „Wiedereinstiegskurs“ für Ärzte teil, um vielleicht doch in dem von ihm einst erlernten Beruf wieder zu arbeiten.

Wurde Goetz bisweilen vorgeworfen, dass sein Kultur- und Feuilletonblickwinkel ein etwas enger sei, so hat sich dieser mit der jahrelangen, vermeintlich vergeblichen Beschäftigung mit der Berliner Republik erheblich vergrößert. Die Beschreibung und Analyse des Sozialverhaltens der Mächtigen in „Loslabern“ zählt zu den Höhepunkten des Goetzschen Schaffens; und sein Fotoband enthält jetzt gleichfalls schöne Einblicke in das Gewusel der Politk. Hier verschwindet der einzelne Politiker gerade bei den Abstimmungen in der Bundesversammlung in der Masse – oder er ist meist mit Journalisten oder einem Mikro vor der Nase zu sehen.

Ein Jahrzehnt wird besichtigt und bekommt bei Goetz durchaus repräsentative Züge. Zudem „wütet“ die Zeit in den Gesichtern der Menschen, glaubt Goetz. Wiewohl sie das gerade auf den Fotos von seinen Freunden und den Nachtlebenmenschen gar nicht so sehr tut. Christian Kracht sieht jünglingshaft aus wie eh und je, und einen Jan Joswig hat man selten so strahlend, so schön gesehen.

Nach der Anspannung des Vortrags und dem Chaos des Anfangs hat Rainald Goetz an diesem Abend gleichfalls ein jugendliches Strahlen auf seinem Gesicht. Noch um Mitternacht signiert er Bücher, ein Dichter, der wieder „werkwärts“ ist und weiß, was er zu tun hat.

Rainald Goetz: Elfter September 2010.

Suhrkamp, Berlin 2010, 226 S., 29,80 €.

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