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Wiederaufbau: Die Auferstehung der Berliner Altstadt

Nach der „Verstaatlichung“ der Mitte durch die DDR ist die Zeit reif für die Wiedergewinnung der vergessenen Stadträume. 128 Architekten sollen sich für das Humboldt-Forum ihre Gedanken machen: Ein erster Schritt.

Nach jahrelanger Debatte sind die Würfel gefallen. Der Wettbewerb unter 128 Architekten für das Humboldt-Forum ist gestartet. Bis in die letzten Stunden wurde nicht etwa um das ehrgeizige Programm, sondern um die Verbindlichkeit der Vorgaben des Bauherrn zur Rekonstruktion der Schlüterfassaden und des Schlüterhofes heftigst und wie so oft, wenn es um Fassaden geht, fundamentalistisch gestritten.

Die Rekonstruktion der Schlossfigur ist ein erster Schritt zur Wiedergewinnung der maßstabgebenden umliegenden Stadträume. Die Dimensionen der Auslöschung von Stadtgrundrissen und Stadtraum werden gerade jetzt mit der Möglichkeit, durch den demontierten Palast hindurchzusehen, erkennbar. In wenigen Monaten wird man vom derzeit rekonstruierten Schinkelplatz vor der noch zu rekonstruierenden Bauakademie in Richtung Nord-Osten quer durch das mittelalterliche Zentrum bis zum Fernsehturm blicken können. An die ehemalige Berliner Altstadt erinnert nur noch die Kirche St. Marien.

Ein solches Maß an Erinnerungslosigkeit über eine mehr als 750 Jahre alte mittelalterliche Stadtlandschaft ist in Europa einmalig. Mit der Rekonstruktion des alten Schlosskörpers für das Humboldt-Forum ergeben sich überraschende, an die städtebauliche Geschichte erinnernde Funktions-, Raum- und Sichtbeziehungen aus und in die verschiedenen Richtungen der leergeräumten Stadt. Das Schloss war ja nicht, wie der Palast der Republik, isoliert von der umgebenden Stadt, sondern dessen räumlicher Mittelpunkt. Allein die Rekonstruktion der fünf Portale geben den Stadträumen wie dem Schlossplatz, der Schlossfreiheit und dem Lustgarten ihre Bedeutung zurück.

Die Quartiere und Plätze von Cölln und Alt-Berlin reichten bis an die Plätze und Mauern des Schlosses heran. Nach der Sprengung im Jahr 1950 wurde dieser Zusammenhang nach und nach getilgt. Die noch vorhandenen Gebäude wurde abgerissen und das Netz der Straßen und Plätze ausgelöscht. Die Namen bedeutender Straßen verschwanden. Die Altstadt Berlins verschwand mit ihren Plätzen unter dem Asphalt einer vielspurigen Magistrale oder wurde von belanglosen Grünanlagen zugedeckt. Der historische Kern der Stadt wurde so zum zentralen Raum des DDR-Staates, dessen Grenzen durch den Palast, das Außenministerium und das Staatsratsgebäude definiert und durch die vielspurige Grunerstraße brutal zerschnitten wurde.

Aus der Schlossfreiheit wurde zuerst der Marx-Engels-Aufmarschplatz, nach der Wende irrtümlich in Schlossplatz umbenannt. Der eigentliche Schlossplatz verschwand als Raum und Adresse ganz und mit ihm auch der Schlossbrunnen, der nunmehr als Brosche in der Achse des Fernsehturmes einen neuen Standort fand. Mit dem Bau des Staatsratsgebäudes samt eingebautem Schlossportal verschwand die Straße An der Stechbahn, deren Bebauung die Westseite des alten Schlossplatzes definierte. Vom Schlossplatz sah man durch die Brüderstraße hindurch St. Petri, bei deren Fundamentausgrabungen kürzlich festgestellt wurde, dass Berlin rund 50 Jahre älter sei, als bisher angenommen.

Obwohl dieser zerstörerische Umgang mit den Straßen- und Platzräumen rund um das Schloss in seiner Radikalität kaum überbietbar erschien, wurde dies auf der Stadtseite noch getoppt. Hier, in dem dem ältesten Teil des Schlosses gegenüberliegenden Teil von Alt-Berlin, wurde das ganze Quartier mit der Heiligegeiststraße als Mittelpunkt abgeräumt, um Platz für das zentrale Hochhaus und später für ein Marx-Engels-Forum samt Denkmal der beiden Philosophen zu schaffen. Aus der ursprünglich räumlichen und sozialen Nähe und der darin eingeschlossenen Spannung zwischen Bürgern, Kirche und staatlicher Herrschaft wurde durch den autoritären Griff der Staatspartei auf Stadt und das als Museum genutzte Schloss ein herrschaftlich dimensionierter, symmetrischer Staatsraum zwischen Fernsehturm und Palast der Republik.

Die architektonischen Überlegungen dieser radikalen Neugestaltung der Berliner Altstadt sind allerdings keine alleinige Erfindung des DDR-Staates, sondern reichen mit West-Berliner Anteilen bis in die fünfziger Jahre zurück. Die aus dieser Zeit stammende Vorstellung eines völligen Neuanfangs wurde vielfach modifiziert und mit der Fertigstellung des Fernsehturmes (1969) und des Palastes der Republik (1974-76) abgeschlossen.

Eine Revision dieser Politik der Verdrängung und Verachtung der Stadtgeschichte erfolgte erst mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages zur Rekonstruktion des Schlosskörpers und der drei Fassaden. Auf eine angemessene Reaktion der Stadt auf dieses selbstbewusste Bekenntnis zu den Wurzeln des Staates wartet man bisher vergeblich. Der Stadtstaat tut sich schwer mit deutlichen Zeichen zur Zukunft seiner erst abgeräumten und dann „verstaatlichten“ Straßen und Plätzen. Der erste Versuch von 1992, das Thema des Stadtzentrums mit einem Gutachten zu bearbeiten, blieb ohne Resonanz. Die wiedervereinigte Stadt war mit der Gestaltung der ehemaligen Grenzorte (Potsdamer Platz, Spreebogen) offensichtlich voll ausgelastet.

Der nächste Versuch (1994) vollzog sich im Rahmen eines Wettbewerbs unter der Überschrift Spreeinsel. Trotz beachtlicher Resonanz von 1105 Teilnehmern blieb auch dieser Wettbewerb ohne Folgen. Die nächste Debatte über die Zukunft der beiden Altstadtkerne fand in den Jahren nach 1996 statt. Damals wurde vom Senat der erste Entwurf des 1999 beschlossenen Planwerks mit Vorschlägen zur kritischen Rekonstruktion im Bereich von Molkenmarkt, Marienviertel und Fischerkiez vorgestellt. Dagegen erhob sich, der Schlossdebatte nicht unähnlich, ein Sturm der Entrüstung, vor allem von den Verteidigern der Tabula-rasa- Haltung der städtebaulichen Moderne der späten DDR, in Politik, Kultur, Akademien, Universitäten, Architektenverbänden und Teilen der Tagespresse. Allein die Tatsache, dass die Planer dieser Vorschläge bis zum Fall der Mauer in West-Berlin wohnten, galt als Makel, als Beleg für eine erneute Kolonisation durch den Westen. Die Teilung der Stadt mit der Inanspruchnahme des historischen Zentrums für eine Ost-Berliner Identität – den Palast eingeschlossen – hielt auch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer an.

Im Grundsatz gilt diese auf Kontinuität der 40-jährigen Trennung angelegte Abwehr der Bezugnahme auf die gemeinsame Geschichte Berlins bis heute. Im Zentrum unserer Stadt geht es aber nach dem Ende der DDR und nach dem Abriss des Palastes nicht mehr um Ost- oder Westbefindlichkeiten, sondern um das schwierige Verhältnis der Stadt mit Rathaus, mittelalterlichen Klöstern, Kirchen, Schulen, Straßen und Plätzen zum künftigen Humboldt-Forum im Schloss. Beschränkt sich die Stadt mit ihren Einrichtungen und Räumen auf die Rolle eines zweitklassigen Lustgartens mit einem Marx-Engels-Denkmal im Zentrum, oder arbeitet sie selbstbewusst an ihrem verschütteten eigenen Stadtbild? Wer Letzteres anstrebt, muss sich intensiv mit den vergessenen Stadträumen und ihren Potenzialen auseinandersetzen.

Wie schwer sich die Stadt damit noch immer tut, zeigt sich auch da, wo nach dem Beschluss des Senats über das Planwerk von 1999 inzwischen mit einem Bebauungsplanverfahren unter dem bürokratischen Namen 1-14 B die Rekonstruktion eines vergessenen Quartiers mindestens auf dem Papier begonnen hat. Hier wird auf der Grundlage eines im Jahre 2004 entwickelten Konzeptes der bisher wenig beachtete, gleichwohl spektakulärste Versuch unternommen, gegen die Berliner Amnesie praktische Schritte einzuleiten. Geplant ist unter anderem die Auferstehung des mittelalterlichen Großen Jüdenhofs, eine Art Rekonstruktion des Gymnasiums zum Grauen Kloster, des Molkenmarktes sowie die Nachzeichnung des alten Stadtgrundrisses.

Wenn man sich klarmacht, mit welcher Leidenschaft und nationaler Beachtung ähnliche Rekonstruktionsaktivitäten in Dresden oder Frankfurt am Main diskutiert werden und dies vergleicht mit der Interessenlosigkeit, mit der dieses Projekt bisher begleitet und vorangetrieben wird, weiß man, wie gründlich und erfolgreich hier das Stadtgedächtnis unter dem Asphalt der Grunerstraße begraben wurde. Wo bleibt die Debatte über den Großen Jüdenhof? Wo das öffentliche Engagement für das Graue Kloster? Wo bleibt der internationale Kongress zur Renaissance eines Teils der Altstadt der deutschen Hauptstadt hinter dem Roten Rathaus? Wo die Werbung zum Wohnen und Arbeiten in bester Altstadtlage? Nicht einmal die in Berlin sonst unvermeidliche Debatte über den Rückbau der Grunerstraße genannten innerstädtischen Stadtautobahn gibt es. Dabei geht hier auch um die zukünftigeFunktion des Rathauses nach der Beseitigung des rückwärtigen Parkplatzes.

Überhaupt das Rathaus: Bis 1945 zwischen Rathaus- und Königstraße im Zentrum der Stadt Berlin gelegen, wurde es mit der Verstaatlichung des Zentrums in der DDR zum besonderen Möbel an der durch den Fernsehturm dominierten großen Achse. Die Stadtregierung, der Magistrat, war sichtbar Anhängsel des übermächtigen Staates. Diese große Achse ist bis heute die Ursache dafür, dass man, vor der Treppe des Rathauses stehend, hinter dem Neptunbrunnen die freigestellte St. Marien-Kirche erblickt. Nun sind Freilegungen von Kirchen keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Aber diese DDR-spezifische Art der Freilegung war eine barbarische Entblößung eines Gotteshauses in einer auch inhaltlich ziemlich gottlosen Gegend durch den autoritären DDR-Staat.

Aus vielerlei Gründen ist hier eine Rekonstruktion und bürgerliche Wiederbebauung notwendig, die der Kirche als Gebäude und Institution ihren Maßstab am Neuen Markt vor der Kirche verschafft und dem Rathaus ein städtisches Gegenüber. Leider ist auch die Kirche als Institution, als Akteur ihrer eigenen Interessen an dieser Stelle – das gilt erst recht für St. Petri – stumm geblieben und begnügt sich mit der Rolle einer architektonischen Erinnerungsstätte an einer innerstädtischen Stadtautobahn.

Der Vorschlag des Planwerks von 1996 mag zu zaghaft gewesen sein, aber er war immerhin ein erster, halb gescheiterter Versuch, das Tabu der Verstaatlichung der Stadt zu brechen. Die Zeit ist reif für einen neuen Anlauf. Der erste Schritt dazu wäre die Rückkehr des Neptunbrunnens mit Hofstaat, Putten und Meeresgetier auf den Schlossplatz. Unter der dann freigelegten Fläche träfe man schnell auf alte Fundamente und den mittelalterlichen Plan der Stadt mit Bischofsstraße, dem Hohen Steinweg und dem Neuen Markt. Von der wiederentstandenen Bischofsstraße / Ecke Spandauer Straße wäre es dann nur noch ein Sprung in Richtung Heiligegeiststraße, der Hauptstraße des Quartiers, das in wenigen Jahren dem Humboldt-Forum direkt gegenüberliegt.

Hier, im Bereich der ältesten Teile des Schlosses, entsteht nach dem Willen der Wettbewerbauslober die neue Stadtfassade, aus deren modernen Fensteröffnungen man aber nicht die Stadt, sondern die Rückenansichten der Philosophen Marx und Engels sähe. Man mag dieses „mit dem Rücken zum Schloss sitzen“ als angemessene Botschaft im Verhältnis der beiden zu den Hohenzollern deuten. Der Bedeutung des staatlichen Humboldt-Forums im Verhältnis zur Stadt der Bürger wird es jedoch nicht gerecht.

Rund um die Heiligegeiststraße muss daher wie am Molkenmarkt wieder städtisches Leben einziehen. Die beiden Philosophen könnten dabei an ihrem jetzigen Standort bleiben und würden so wieder aus dem Zentrum einer Staatsachse in die Mitte der Gesellschaft rücken.

Hans Stimmann, geb. 1941 in Lübeck, Dr.–Ing., war von 1991 – 2006 Senatsbaudirektor von Berlin. Sein „Planwerk Innenstadt“ von 1999 leitet die Bebauung der Stadt.

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