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Kultur: Wiederentdeckung königlicher Genüsse

Das Centre de Musique Baroque von Versailles erforscht und verbreitet den musikalischen Ruhm FrankreichsVON BORIS KEHRMANNDurch eine kleine Pforte im Tor gelangt man von der befahrenen Avenue de Paris in den Hof des Hôtel des Menus-Plaisirs.1748 wurde das elegante Palais einen Steinwurf vom Schloß erbaut.

Das Centre de Musique Baroque von Versailles erforscht und verbreitet den musikalischen Ruhm FrankreichsVON BORIS KEHRMANNDurch eine kleine Pforte im Tor gelangt man von der befahrenen Avenue de Paris in den Hof des Hôtel des Menus-Plaisirs.1748 wurde das elegante Palais einen Steinwurf vom Schloß erbaut.Jean Papillon de la Ferté war sein schillerndster Bewohner.Der quirlige Höfling, der seinem Namen alle Ehre machte, hatte in Versailles über die Bequemlichkeit des Königs zu wachen: von der Leibwäsche über Schmuck, Möbel und Silberzeug bis hin zur Organisation von Krönungen, Taufen, Hoffesten und theatralischen Veranstaltungen unterstanden die "kleineren Annehmlichkeiten" Ludwigs XV.und XVI.seiner Aufsicht.Zudem leitete er die Comédie Italienne, die Comédie Française und seit 1780 auch die Pariser Oper.Am 1.Thermidor im Jahre II der Republik hatte der 69jährige "König der Kulissen" für sein Leben auf der Sonnenseite der Monarchie mit dem Kopf zu zahlen.Heute beherbergt das in freundlichem Weiß restaurierte, innen vollständig modernisierte Palais des Herrn Schmetterling eine aus deutscher Sicht beneidenswerte Institution: das Centre de Musique Baroque de Versailles. Auch die Geschichte dieses nachahmenswerten, in Barcelona und Neapel bereits nachgeahmten Instituts weiß von zähem Verhandlungsgeschick und diplomatischem Fingerspitzengefühl zu erzählen, mit dem Vincent Berthier de Lioncourt dem französischen Kulturministerium den Auftrag zu seiner Gründung im Oktober 1987 abringen mußte.Ursprünglich ging es darum, den musikalischen Glanz des Ancien Régime in den historischen Räumen von Versailles wieder aufscheinen zu lassen.Berthier rief zu dem Zweck eine dreimonatige Konzert-Saison, den "Automne musical" ins Leben.Als konzerttauglich bewährten sich die Königliche Kapelle, die Oper und der Herkulessaal im Hauptschloß sowie die Galerie mit den Gartenansichten des Malers Cotelle im Großen Trianon-Palast am anderen Ende des Parks.Der Sonnabend um 17.30 Uhr wurde zum festen Termin, an dem von den international angesehensten Interpreten die französische Musik der beiden großen Jahrhunderte alljährlich von Anfang Oktober bis Ende Dezember gefeiert wird.Die "Grands Journées", ein verlängertes Wochenende mit 10 und mehr Konzerten an drei oder vier Tagen, eröffnen das Festival.Sie sind jeweils einem bedeutenden Komponisten des französischen Barock gewidmet und stellen sein Werk in seiner ganzen Formenvielfalt vor.An den Musikalischen Samstagen sind für 1998 zwei den Organisten Ludwigs XIV.und den Clavecinisten Ludwigs XV.gewidmete Reihen vorgesehen. Dieser musikalische Glanz nicht nur von Versailles, sondern - wie man bald herausfand - auch all der anderen Städte und Kathedralen des Landes - er war in den zwei Jahrhunderten nach der Revolution gründlich in Vergessenheit geraten.So wurde die Gründung zweier Unterabteilungen im "Centre de Musique Baroque" notwendig: einer Forschungsstelle, die die Schätze der Vergangenheit ausfindig machte und hob, und eines Ausbildungszentrums, das junge Interpreten im französischen Vokal- und Instrumentalstil unterwies.Im zwölften Jahr seines Bestehens hat das Zentrum bei einem Jahresetat von 19 Millionen Francs (knapp 6 Millionen Mark) eine Eigendynamik entwickelt, in der sich die Aktivitäten der Wiederentdeckung, Erforschung und Verbreitung der französischen Musik des 17.und 18.Jahrhunderts gegenseitig befruchten.Ziel der Arbeit im Hôtel des Menus-Plaisirs ist die Edition und Aufführung vergessener Werke.Da bereits Ludwig XIII.1637 der über zwei Jahrhunderte übermächtigen Verleger-Dynastie der Ballards ein Monopol auf den Druck von Musikalien verlieh, ist nur ein winziger Bruchteil der landesweiten Musikproduktion über den engsten Wirkungskreis handschriftlicher Überlieferung hinausgedrungen.Alles, was die Willkür der allmächtigen Verleger unter den Tisch fallen ließ, versucht man nun im In- und Ausland aufzuspüren und systematisch zu erfassen.Die hauseigene Datenbank "Philidor", die demnächst auch im Internet zugänglich sein soll, umfaßt bereits 65 000 Werkbeschreibungen.Hier können Musiker speziell auf ihre Besetzungsmöglichkeiten und Wünsche abgestimmte Programm-Vorschläge abrufen.Man pflegt intensive Kontakte zu Forschern auf der ganzen Welt, die die Datenbank fortlaufend mit Informationen füttern.Noten, die in Paris oder Versailles nicht vorhanden sind, werden auf Mikrofilm in der hauseigenen Bibliothek gesammelt.Im übrigen ist man anfragbar.Ensembles die sich für bestimmte Werke oder Komponisten interessieren, können sich das Stimmenmaterial hier auf Wunsch edieren, d.h.in heute gebräuchliche Notenschlüssel und -schrift umschreiben und mit den entsprechenden Spiel- und Verständnishilfen versehen lassen.Studenten aus aller Welt, die sich durch Herausgabe eines kleineren Werks z.B.ihren Magister verdienen wollen, sind jederzeit willkommen und können staatliche Stipendien in Anspruch nehmen.Ein jährlich erscheinendes Bulletin informiert über laufende Forschungs- und Editionsarbeiten sowie über jüngste Veröffentlichungen im Buch- und Plattensektor und ist kostenlos direkt beim Centre de Musique Baroque de Versailles (22, avenue de Paris, F-78 000 Versailles) zu beziehen. Nicht ganz so glücklich ist man mit dem Ausbildungszweig gefahren.Die Sektion Bühnenkunst, die eine Art historische Aufführungspraxis der Szene entwickeln wollte, mußte aus finanziellen Gründen wieder fallen gelassen werden.Die Solistenausbildung erlebt aus demselben Grund ein einjähriges Moratorium.Nur der Männer- und Kinderchor, nach dem historischen Vorbild der Pages et Chantres de la Chapelle Royale formiert, blüht und gedeiht.Unter der Leitung Olivier Schneebelis verbreitet er den Ruhm der französischen Musik auf Festivals und CDs im In- und Ausland (am 13.6.auch in Potsdam).Die nachhaltigsten Impulse gehen jedoch von den Anregungen aus, mit denen das Zentrum Stars und Novizen der Spezial-Szene förmlich dazu drängt, sich mit den neuentdeckten Werken und Komponisten zu befassen.Über 100 CD-Einspielungen dokumentieren das neue Repertoire; manches heute hochangesehene Ensemble verdankt der Plattform des "Automne musical" seine stilistischen Kenntnisse und seinen Durchbruch. Vincent Berthier de Lioncourt hat unterdes das fest etablierte Zentrum seinem Mitarbeiter Jean Duron übergeben und 1997 ein neues Festival gegründet.Die "Nouveaux Plaisirs de Versailles" bringen Musik, Tanz und Theater aller Länder und Zeiten seit dem Barock von März bis Juli ins Schloß, so daß hier nun, nimmt man das kunterbunt gemischte Sommer-Festival in den Park- und Hofanlagen dazu, praktisch das ganze Jahr über gespielt wird."Bach in Versailles" steht in diesem Frühling auf dem Programm und brachte nicht nur die Berliner Akademie für Alte Musik unter Ton Koopman, sondern auch die "Johannespassion" erstmals in die 1710 fertiggestellte katholische Hofkapelle Ludwigs XIV.Bach aus Berlin, das hat für die Franzosen denselben Reiz des Authentischen wie Rameau aus Paris für uns Berliner.Chor und Solisten stellte das "Centre de Musique Baroque".Olivier Schneebeli will seinen Sängern regelmäßig die Möglichkeit geben, ihre Repertoire-Kenntnisse zu erweitern und mit bedeutenden ausländischen Dirigenten und Orchestern - demnächst mit René Jacobs und Nikolaus Harnoncourt - Erfahrungen zu machen.Die Zeichen stehen auf Öffnung.Hauptaufgabe dieser wunderbaren Gelehrten-, Künstler- und Liebhaber-Republik aber bleibt der Dienst an "Toutes les Gloires de la France", denen der Bürgerkönig Louis Philippe das Schloß seiner Vorgänger1837 als nationales Museum weihte.

BORIS KEHRMANN

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