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Kultur: Wiedervereinigung? Guter Witz!

Gerhard A. Ritter zeichnet die Rolle von Hans-Dietrich Genscher bei den Verhandlungen zur Einheit nach.

Der Weg zur deutschen Einheit muss nicht umgeschrieben werden. Die friedliche Revolution und Helmut Kohl behalten ihren Platz im Geschichtsbuch. Denn der Historiker Gerhard A. Ritter widersteht der Versuchung, seine Forschungen über die Rolle von Hans-Dietrich Genscher und das Auswärtige Amt so zuzuspitzen, dass wenigstens ein kleiner Denkmalsturz dabei herauskommt, etwa in Sachen „Kanzler der Einheit“. Man darf auch annehmen, dass das für ihn, der vor allem mit seinem Buch über die sozialpolitische Seite der Wiedervereinigung das Bild der Wende vertieft hat, keine wirkliche Versuchung war. Denn das Bewegende an diesem Buch liegt in der Dramatik des Geschehens, das es wieder zutage fördert.

Denn nach dem glücklichen Ende der Vereinigung ist ziemlich in Vergessenheit geraten, um was für ein gewagtes, gefährdetes und fast gegen alle Wahrscheinlichkeit gerichtetes Unternehmen es sich dabei handelte. Und das gilt auch und vor allem für ihren außen- und sicherheitspolitischen Teil, der angesichts der aufregenden Ereignisse in Deutschland zumeist als Nebenschauplatz erscheint. Er war aber eine Hauptkampfzone. Denn die Einheit war nicht nur das Resultat der Überwindung der Zweistaatlichkeit auf innenpolitischem Gebiet. Sie musste auch einer weltpolitischen Situation abgerungen werden, einem vielfältig fixierten Status quo mit tief verankerten Vorbehalten und Gegenpositionen.

Die Vereinigung, so zeichnet es Ritter nach, war nach dem Mauerfall weder für die Alliierten noch gar für Gorbatschows Sowjetunion eine ernsthafte Option. Auch für die Deutschen nicht. Ritter sieht auch in Kohls berühmten Zehn-Punkte-Plan nicht viel mehr als einen „Versuchsballon“. Tatsächlich nehmen sich die von ihm gesammelten Äußerungen von Deutschen und auswärtigen Mächten bis Anfang 1990 aus wie die Dokumente eines bestenfalls vage absichtsvollen Herumstocherns in einer politischen Szenerie, die durch den Mauerfall und die ostmitteleuropäischen Bewegungen in heftige Unruhe gebracht worden war.

Es geschieht nicht in der Absicht nachzutreten, wenn man daran erinnert, dass der Bundeskanzler noch im September 1989 das Verhältnis der beiden deutschen Staaten als „ein wesentliches Element der Stabilität in Europa“ bezeichnete, Gorbatschow Anfang Dezember die zwei deutschen Staaten als Resultat der Geschichte, und François Mitterrand und Margaret Thatcher im Januar 1990 eine Art Wiederbelebung der Entente cordiale der Zeit vor 1914 erwogen. Solche Erinnerung macht nur klar, wie lang und steil der Weg war, den alle Politiker in Europa zurückzulegen hatten.

Ritters Buch macht nachvollziehbar, was es bedeutet, aus diesem Gewirr oft widerstrebender, auch eminent gegensätzlicher Positionen und Interessen ein belastbares politisches Gewebe zusammengestrickt zu haben. Das war eine Arbeit von Monaten, bei denen immer wieder Rückfälle drohten. Und nur mit leichtem Schaudern nimmt man wahr, wie immer wieder gleichsam archaisch-nationale Positionen zum Vorschein kommen, von denen man glaubte – nicht nur im Fall von Thatcher –, dass sie die Nachkriegszeit nicht überstanden hätten.

Hier liegt die unbestreitbare Leistung Genschers und des Auswärtigen Amtes. Ein guter Teil der politischen Nachkriegswelt musste abgetragen werden – der Viermächtestatus Berlins, die Präsenz ausländischer Truppen in Deutschland, das Ost-West-Patt gegenseitiger Bedrohung, schließlich auch die DDR als internationaler Akteur. An seine Stelle trat eine neue Struktur, geprägt durch die deutsche Souveränität, die Ausdehnung der Nato auf ganz Deutschland, schließlich auch die Oder-Neiße-Grenze. Die These, dass die europäische Währungsunion der Preis für die Zustimmung Frankreichs zur deutschen Einheit war, nennt Ritter übrigens „falsch“. Sie stehe schon in der Europäischen Akte von 1986, sei allerdings durch die deutsche Einheit beschleunigt worden. Das alles war vor allem ein Erfolg der Zwei- plus-Vier-Verhandlungen, der wiederum „nicht zuletzt dank der glänzenden Verhandlungsführung des Auswärtigen Amtes in etwa einem halben Jahr ohne wesentliche Abstriche erreicht worden ist“.

Und da gibt es auch ein interessantes, zum Nachdenken Anlass gebendes Detail, das die fast tragische Rolle des damaligen DDR-Außenministers Markus Meckel betrifft: Er versucht unverdrossen, der Vereinigung das Projekt einer europäischen Sicherheitsstruktur aufzuladen. Er läuft damit natürlich gegen die Wand, denn alle Vertreter des Westens scheuen jede Verzögerung des Einheitsprozesses. In dem Konflikt blitzt nochmals die Orientierung der DDR-Bürgerbewegung auf einen dritten Weg auf. Mehr noch: die Vorstellung einer auf dem (Um-)Weg eines europäischen Interessenausgleichs angesteuerten deutschen Einheit – der eruptive Akt der Maueröffnung ließ sie gleichsam ins Leere laufen.

Übrigens geht Ritter mit der Politik Genschers streng um, obwohl er keinen Hehl daraus macht, dass er ihr zustimmt. Das Credo des Ministers, nachdem die Vereinigung keine Laune des Schicksals, sondern „die Frucht einer mühevollen, langfristig angelegten und mit langem Atem verfolgten Politik der Überwindung der Spaltung Europas mit dem Ziel, damit auch die deutsche Teilung zu beenden“, gewesen sei, lässt er nicht gelten. Es habe bis 1989 keine „operative Politik“ zur Herbeiführung der Einheit gegeben. Wird das der Ostpolitik gerecht? Hat sie nicht mit ihrer Strategie des friedlichen Nebeneinanders den Aggregatzustand der DDR so verändert, dass sie schließlich dem historischen Augenblick wie eine reife Frucht in den Schoss fiel?

Ritters Verdienst ist es, den Blick auf die gleichsam zweite Ebene der deutschen Vereinigung zu lenken, die im öffentlichen Urteil in der Tat zu kurz kommt. Nach dem historischen Akt der friedlichen Revolution musste der Weg zur Einheit planiert werden, nach innen und nach außen. Es trifft zu, dass die Rolle Genschers und des Auswärtigen Amtes dabei nicht angemessen präsent ist – was übrigens für den administrativen Prozess insgesamt gilt.

Man kann Ritter bescheinigen, dass er Genschers Bild nicht auf Kosten Kohls modelliert. Aber die „unverzichtbare, mitentscheidende Rolle“, die er ihm zumisst, kommt dem langjährigen Außenminister zu. Herrschte zwischen beiden eine Arbeitsteilung, wie Ritter meint? Oder sah nicht jeder auch darauf – worauf es Hinweise gibt –, dass er sein Spiel in der Hand behielt? Wie auch immer: Außer Frage steht, dass es neben dem „Kanzler der Einheit“ auch einen „Außenminister der Einheit“ gab.







– Gerhard A. Ritter:
Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung. C.H.Beck Verlag, München 2013. 263 Seiten, 26,95 Euro.

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