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Kultur: Wilder Westen, goldene Mitte

Essen für alle: Mit dem Ruhrpott bewirbt sich erstmals eine ganze Region um den Titel Spiel ohne Grenzen: Görlitz besticht durch Historie und die Nähe zu den neuen EU-Mitgliedern

Von Michael Zajonz

„Den hamse aber fein gemacht!“ Wer als Anzugträger mit der Straßenbahn zur Zeche Zollverein unterwegs ist, auf dem Weg zu einer Theaterpremiere im Industriekultur-Zentrum, muss auf liebevolle Kommentare gefasst sein. Im Ruhrgebiet, diesem unüberschaubaren Städtenetz, in dem allein die Autobahnen Orientierung geben, fährt man mit dem eigenen Wagen. Öffentliche Verkehrsmittel sind für Minderjährige da und für jene, die sich keinen PKW leisten können. Nicht wenige von ihnen leben rund um Zollverein. In Essen-Katernberg existieren der alte und der neue Pott direkt nebeneinander: Auf der einen Seite die umgewidmeten Kohlegruben und Stahlwerke, kühne, kühle Baudenkmale einer goldenen Epoche, als es im wahrsten Wortsinn heiß her ging. Auf der anderen Seite triste Reste der klassischen Arbeitersiedlungen, das Verdämmern der regionalen Kumpel-Kultur mit eigenen Freizeitzirkeln und echtem Proletarier-Stolz. In Zeiten der Globalisierung glaubt hier keiner mehr, dass hier alle Räder still stehen, wenn sein starker Arm es will.

Das ewig Unfertige des Reviers hat die Kulturhauptstadt-Jury beeindruckt, jene sieben Honoratioren, die aus zehn nationalen Bewerbern zwei Finalisten auswählen mussten, von denen einer dann im Frühjahr 2006 in Brüssel zum Titelträger 2010 ernannt wird. Das Ruhrgebiet hat sich als Region beworben, mit Essen als Sprecherin. Der wilde Westen der Republik tritt an gegen die sächsische Perle Görlitz. Und hat gute Chancen. Zwischen Dortmund und Duisburg nämlich wird ein Kampf ausgefochten, der ganz Europa betrifft: das Ringen um eine wirtschaftliche Basis in postindustrieller Zeit. Ein Knotenpunkt der Dienstleistungsgesellschaft möchte der Pott werden, und vieles ist schon gelungen. Die Luft über den Fußgängerzonen ist längst sauberer als in Berlin, wer vom Dach des Gasometers in Oberhausen ins Land schaut, sieht mehr Grün als Grau.

Das größte Problem der Region ist der Kirchturm-Faktor. Eines lässt sich eben nicht wegdiskutieren: Die 5,5 Millionen-Einwohner-Agglomeration ist letztlich ein Sammelsurium von Kleinstädten. Ihre Kommunen, die aufeinander zufließen wie Kuhfladen in der Sonne, beäugen sich mit dem Blick des Reihenhausbesitzers, der die dicksten Dinger immer in Nachbars Garten vermutet. Hat Dortmund ein Konzerthaus gebaut, braucht Essen ebenfalls eines, und Bochum auch, und Duisburg sowieso. Auf das vom Konkurrenten Görlitz ausgesprochene Kooperationsangebot in Sachen „2010“ einzugehen, scheint da leichter, als die eigenen Leute bei der internen Kulturhauptstadt-Vorbereitung zusammenzuhalten.

Denn leider sind die Bürger demselben Denken verhaftet wie ihre Stadtväter, fahren ungern die 20, 30 Minuten in die Nachbargemeinde. Mit der Folge, dass sich in Dortmund das örtliche Theater und der neue Musiksaal plötzlich dasselbe Publikum teilen müssen – woraufhin der Intendant des Konzerthauses seine Auslastungsvorgaben nicht erfüllen kann und prompt von der Politik aus dem Amt gemobbt wird.

Schwer haben sie es auch Gerard Mortier gemacht, dem Weltmann unter den Kulturmanagern, der 2002 zur Gründung der Ruhrtriennale gerufen wurde. Von Nordrhein-Westfalen üppig ausgestattet, hat der Flame gegen den Widerstand der lokalen Künstlerfürsten ein Netzwerk neuer Gastspielstätten geschaffen: In die Jahrhunderthalle in Bochum, in den Landschaftspark Duisburg/Nord holte Mortier die Crème der internationalen Reisetruppen von Ariane Mnouchkine bis La Fura dels Baus – und irgendwann begannen die Leute dann doch, den Duft der großen weiten Festivalwelt zu genießen. In der Pause allerdings belagern weiterhin Hopfensüchtige die Foyertheken, hinter denen mit Hochdruck gegen den allgemeinen Bierdurst angezapft wird. Daran wird wohl auch Mortiers Triennale-Nachfolger Jürgen Flimm, ein Vortrinker der Toskanafraktion, nichts ändern können.

Aus Berliner Sicht hat das Ruhrgebiet der Hauptstadt mindestens Dreierlei voraus: die Fußball-Religion natürlich, so manches Currywurstsaucen- Geheimrezept und nicht zuletzt das Bewusstsein, dass richtig Geld in die Hand nehmen muss, wer wirklich mit Kultur als Standortfaktor punkten will. Damit der Ruhrgebietler 2010 von seinen Pott sagen kann: „Den hamse aber fein gemacht.“

Noch liegt sie nicht auf der Rennstrecke der Touristen, die Europa in drei Tagen abhaken. Doch in ihren von Arkaden gesäumten Bürgerhäusern, der dramatisch an das Hochufer der Neiße gerückten Peterskirche oder den freien Ausblicken ins Umland schlägt das Herz Alteuropas genauso stark wie in Siena, Brügge oder Heidelberg. Und wer nach einem ersten Rundgang vor der Renaissancetreppe des Görlitzer Rathauses innehält, spürt, dass er eine heimliche Königin entdeckt hat.

Im Mittelalter führte durch Görlitz die Via Regia, eine der wichtigsten Handels- und Pilgerstraßen zwischen Ost und West, die Kiew mit Santiago de Compostela verband. In und um die durch den Tuchhandel reich gewordene Stadt siedelten Schlesier, Sorben, Böhmen; die Landesherrschaft in der Oberlausitz wechselte zwischen dem König von Ungarn, den Habsburgern, Kursachsen und Preußen. Mitteleuropäischer geht es nicht.

Seit 1945 liegt Görlitz im Dreiländereck von Deutschland, Polen und Tschechien. Mehr noch: Die Neiße trennt das alte Görlitz (60000 Einwohner) von einer nach 1871 rechts der Neiße entstandenen Stadterweiterung, dem heute polnischen Zgorzelec (40000 Einwohner). 1998 proklamierten beide Stadtverwaltungen die Europastadt Görlitz/Zgorzelec.

Administrative Zusammenarbeit kann nicht den nachbarschaftlichen Umgang ersetzen. Doch sie erleichtert erste Schritte. Vor ein paar Monaten wurde neben dem offiziellen Grenzübergang im Stadtzentrum eine als Fußgängerübergang wiederaufgebaute Brücke eingeweiht. Gemeinsam bewirbt man sich nun um den Titel der Kulturhauptstadt Europas 2010.

Dabei könnten beide Teilstädte kaum unterschiedlicher sein. Zgorzelec muss ohne den malerischen Reiz der Görlitzer Altstadt und ohne die gründerzeitliche Eleganz der dortigen Neustadt auskommen. Hier findet das Leben auf der Straße statt. Das einzig wirklich imposante Gebäude ist die „Oberlausitzer Gedenkhalle“ (1902), eine Art Mini-Reichstag mit Säulenportal und hoher Kuppel, in dem heute ein Kulturhaus residiert. 1950 unterzeichnete dort DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl den „Görlitzer Vertrag“, in dem die Oder-Neiße-Grenze endgültig festgeschrieben wurde.

Im Gegensatz zu Zgorzelec ist Görlitz weitgehend unzerstört erhalten geblieben. Nirgendwo sonst nördlich der Alpen findet sich ein ähnlich hochkarätiges Stadtkunstwerk aus Gotik, Renaissance und Barock: ein Hauch Oberitalien im östlichen Sachsen. Von rund 3600 eingetragenen Baudenkmalen sind in den letzten Jahren viele vorbildlich saniert worden. Seit 1995 spendet ein geheimnisvoller Unbekannter jährlich eine Million DM (511500 Euro) für die Restaurierung der Altstadt. Eine Milliarde Euro, so schätzen Bauexperten, wurden seit 1990 insgesamt investiert.

Langsam füllen sich die zu DDR-Zeiten schon fast aufgegebenen spätmittelalterlichen Hallenhäuser – die es mit ihren überwölbten Lichthöfen und gegeneinander versetzten Geschossen so nur in Görlitz gibt – wieder mit Restaurants und Geschäften. Doch noch stehen über 40 Prozent der Wohnungen in der Altstadt leer. Am Grab des 1624 verstorbenen Mystikers Jakob Böhme oder angesichts der 500 Jahre alten Nachbildung des Heiligen Grabes von Jerusalem passt die himmlische Ruhe dagegen perfekt.

Manche Kritiker meinen, Görlitz, das um 1900 zum bevorzugten Wohnort wohlhabender Berliner Pensionäre aufstieg, sei zu überschaubar, zu schön und heil, um europäische Kulturhauptstadt zu werden. Doch Görlitz und Zgorzelec bewältigen einen ähnlichen Strukturwandel wie ihre Mitbewerberin Essen. Siemens produziert in Görlitz, das seit der Wende 29000 Einwohner verlor, zwar noch Dampfturbinen und Bombardier Eisenbahnwaggons. Die einst bedeutende Textilindustrie ist hingegen beinahe verschwunden. Auf der polnischen Seite gibt es immerhin noch ein Großkraftwerk mit dazugehörigem Braunkohletagebau. Die erstaunlichste Metamorphose wird sich jedoch entlang beider Neißeufer inmitten der Stadt vollziehen. Im „Brückenpark“ sollen künftig Polen, Deutsche und Tschechen gemeinsam studieren, arbeiten und ausgehen können. In der behutsamen Neubebauung und Umnutzung der Uferzone verdichten sich die Reden vom neuen Europa zu einem handfesten Ziel: Kultur, nicht nur Konsum.

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