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Kultur: „Wir Belgier sind vom Tod fasziniert“

Heute beginnt der Dutroux-Prozess. Der Schriftsteller Pierre Mertens über Empörung, Korruption und Selbstzweifel seiner Landsleute

Herr Mertens, schon 1996, kurz nach den Verbrechen von Marc Dutroux, demonstrierten in Brüssel 350000 Menschen. Heute beginnt in Arlon der Prozess gegen den Kinderschänder; ganz Belgien schaut zu. Warum versetzt ein Kriminalfall das Land derart in Aufruhr?

Belgien ist ein sehr kleines Land. Lange haben wir geglaubt, wenn wir schon nicht groß sind, dann wenigstens ein demokratisches Land, ein Modell für ganz Europa. Jetzt entdecken wir, dass Belgien gegen die Sünden der Welt nicht immun ist. Hier werden die gleichen Fehler gemacht und die gleichen Irrfahrten unternommen. Das war eine böse Überraschung. Aber das Aufwachen der Belgier war überfällig: Es war was faul in diesem Staat. Diese fortwährende Kompromissbereitschaft missfällt mir schon lange.

Was meinen Sie damit?

Belgien war lange ein Land, wo nichts Schlimmes passierte. Probleme wurden einfach verdrängt. So war das auch mit dem Streit zwischen den flämischen und frankophonen Gemeinden. Es wurde immer gerade soviel getan, damit es keinen Bürgerkrieg gibt – aber richtig angepackt hat man das Problem nie. Auch in der Justiz tolerierte man viel. Die so genannten Massaker vom Brabant-Wallon in den Achtzigerjahren wurden nicht aufgeklärt; die Mörder wurden bis heute nicht gefasst. All das gab Dutroux mehr Freiraum für seine Taten.

Und warum reagiert man erst jetzt?

Es ist, als ob die Belgier, weil sie diesen schrecklichen Kinderschänder haben, seine Taten wenigstens anständig moralisch verurteilen und eine ordentliche juristische Untersuchung durchführen wollen. Genau das ist aber nicht geschehen, denn Justiz und Polizei haben lange versagt.

Und deswegen geht ein ganzes Land auf die Straße?

Die Belgier sind vom Tod fasziniert, und sie wachen gerne inmitten ihrer Trauer auf. Das geht glaube ich bis auf die spanische Okkupation zurück, sie hat uns gebrandmarkt. Ich meine das nicht ironisch: Den Tod auszuhalten – darin steckt auch Größe. Als König Baudouin gestorben ist, sind die Menschen so zahlreich auf die Straße gegangen, wie es niemand erwartet hatte. Nicht nur aus Trauer. Viele haben am Sarg des Königs zeigen wollen, dass sie Belgier sind, nicht nur Flamen oder Wallonen. Das war eine Art politisches Statement.

Verbindet die Affäre Dutroux die Belgier nun erneut?

Ja, bei den Brüsseler Demonstrationen 1996, der Marche Blanche, haben sich Rechts und Links, Flamen und Wallonen in der gemeinsamen Trauer wiedergefunden.

Ist die belgische Gesellschaft denn für Dutroux’ Taten mitverantwortlich, weil die Unfähigkeit von Justiz und Polizei zu lange toleriert worden ist?

Julie und Melissa sind ums Leben gekommen, weil Polizei, Gendarmerie und Staatsanwaltschaft nicht miteinander gesprochen haben. Jeder behielt seine Informationen eifersüchtig für sich. Die belgische Justiz war bis Ende der Fünfzigerjahre hervorragend. Dann fing sie an zu verkommen, korrupt zu werden. Korrupte Richter sind schlimmer als korrupte Politiker, denn man kann sie nicht abwählen. Eine starke Justiz ist der Schlüssel für ein funktionierendes System – denn dann können auch die Polizisten nicht tun, was sie wollen.

Die Debatte spaltet Belgien: War Dutroux ein Einzeltäter oder stand ein ganzes Netzwerk dahinter, das möglicherweise bis in die Politik reichte?

Das bleibt die große Frage. Es wird vielleicht das einzige Ziel des Prozesses sein herauszufinden, ob wir es mit einem einsamen Perversen, einem grausamen Menschen, einer Art schwarzem Mann zu tun haben oder mit einem Netzwerk. Ich glaube schon, dass der Prozess einige Antworten liefern wird, da viele neue Zeugen aussagen.

Aber mehr als 80 Prozent der Belgier glauben, dass das Gerichtsverfahren den Fall nicht aufklären wird.

Mitte der Neunziger, direkt nach der Tat, hatte man große Revolutionen und Reformen versprochen, der König und Politiker haben schöne Reden gehalten. Man dachte, jetzt gibt es ein Erdbeben. Es gab aber nur Reförmchen. Deshalb herrscht ein Klima des Misstrauens zwischen dem Staat und den Bürgern – eine Stimmung, die leicht in Populismus umschlägt. Vor allem, nachdem kürzlich herauskam, dass einige Minister ihre Steuern nicht bezahlt haben – was fast schon wieder komisch ist. Die Unehrlichkeit der Kabinettsmitglieder wirft einen Schatten auf die ganze Regierung.

Was für Fehler haben die Belgier noch?

Belgien ist ein Land, das an seiner Bescheidenheit eingeht. Aber diese Bescheidenheit, die die Belgier sich selbst eingeredet haben, ist lächerlich. Denn, wie mal ein französischer Autor sagte: Einer von zwei französischen Schriftstellern kommt aus Belgien. Ein Großteil der französischen Kultur stammt von hier. Aber wir sind nicht stolz darauf. So chauvinistisch, selbstverliebt und arrogant Frankreich ist, so zerstörerisch bescheiden ist Belgien. Das ist Selbsthass, eine Art belgischer Masochismus. Bis Ende der Sechziger spielte kein belgischer Roman in Belgien – als ob wir keine eigene Geschichte hätten. Ich gehöre zu den ersten, die das geändert haben.

Ist Belgien provinziell?

Ein kleines Land ist immer auch provinziell. Aber gleichzeitig ist Brüssel die Hauptstadt Europas. Um sich über Frankreich, England oder Italien zu informieren, gibt es nichts Besseres, als in der Nähe der europäischen Institutionen zu leben. Europa fasziniert uns, wir haben immer an seiner Geschichte teilgenommen, waren das Schlachtfeld Europas. Wir wurden von allen besetzt, also kennen wir alle gut.

Wie würden Sie einem Fremden das heutige politische Belgien beschreiben?

Belgien ist ein föderales Land, das die späte Einführung des Föderalismus schlecht verdaut hat. Da wurde nur geflickschustert. Jetzt wollen viele wieder ein einheitliches Belgien, andere wollen das kulturell gespaltene Land auch politisch zweiteilen. Dieser Konflikt, und das ist außerordentlich, ist nie in Gewalt umgeschlagen, die Extremismen wurden im Keim erstickt. Das war schon vor dem Zweiten Weltkrieg so. Die Belgier hassen den Extremismus, das ist die wahre belgische Tugend. Wir hassen das politische Abenteurertum und auch jegliche Form des Terrorismus, auch den intellektueller Art.

Aber es gibt eine koloniale Vergangenheit, die von Gewalt geprägt war.

Ja, aber schlimmer als Frankreich waren wir auch nicht. Außerdem haben wir unsere Leichen aus dem Keller geholt, mit der Debatte über die belgische Beteiligung an der Ermordung Patrice Lumumbas. Spät, aber immerhin. Ich hatte schon 1974, in meinem Roman „Les Bons Offices“, darüber geschrieben. Was unsere finsteren Seiten angeht, herrscht neuerdings ein offeneres Klima.

Und die Dutroux-Affäre ist ein Teil davon?

Ja. Wir entfernen ein enormes Geschwür. Dabei spielen die Eltern der Opfer mit ihrer Forderung nach Aufklärung, ihrer Integrität und ihrer Ablehnung jeglicher politischer Vereinnahmung eine wichtige Rolle. Sie verdienen den Friedensnobelpreis, das meine ich ganz im Ernst. Denn sie haben letztlich doch eine politische Schlüsselfunktion – ohne bei dem politischen Spiel mitzuspielen.

Bietet sich die Dutroux-Affäre als Thema für einen neuen Roman an?

Natürlich ist das Thema für einen Roman geeignet, aber ich sitze momentan an einem anderen Stoff. Man muss sich vor allzu nahe liegenden Themen außerdem in Acht nehmen; Literatur braucht oft etwas Abstand. Aber die Faszination des Todes und gleichzeitig der Pazifismus der Gesellschaft – dieser eigenartige Widerspruch ist interessant für einen Schriftsteller. Mich interessiert der Selbstzweifel der Belgier, auch ihr Spott. Das ist das belgische Leid. Viele belgische Künstler verhöhnen Belgien und machen sich lustig über das Land. Das mag amüsant sein. Aber das Lachen wird irgendwann bitter.

Das Gespräch führte Flora Wisdorff.

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