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Kultur: "Wir Brüder und Schwestern": Familienbande - Täter oder Opfer?

Im Osten gab es mal ein Kampflied, das hieß "Brüder, zur Sonne zur Freiheit". Im Westen gab es während des Kalten Krieges stattdessen die Sorge um die "Brüder und Schwestern drüben".

Im Osten gab es mal ein Kampflied, das hieß "Brüder, zur Sonne zur Freiheit". Im Westen gab es während des Kalten Krieges stattdessen die Sorge um die "Brüder und Schwestern drüben". Jetzt gibt es ein Buch, das heißt "Wir Brüder und Schwestern". Der Kalte Krieg ist zwar vorbei, aber einige Begriffe sind geblieben. Ironisiert zwar, aber sie sind geblieben. Sind wir jetzt eine Familie geworden? "Nein, das wäre für mich etwas anderes", sagt Freya Klier, die Autorin. "Aber beide Teile Deutschlands gehören wirklich zusammen."

Freya Klier stöberte "Brüder und Schwestern" in Sachsen auf, in einem Berliner Kaufhaus für Ostprodukte, in Paris und in einer Klinik für DDR-Geschädigte. Die ehemalige Bürgerrechtlerin porträtiert skurrile Gestalten, depressive, zerbrochene und auch mutige Zeitgenossen. Kaum einer ist richtig froh. Einige Biografien stecken voller Lebenslügen, andere sind geprägt von ständiger Auflehnung. Es sind authentische Geschichten, eine bedrückende Bestandsaufnahme im zehnten Jahr nach der Vereinigung. Der Schreibstil wechselt von herber Ironie zur flotten Reportage, vom feinfühligen Porträt zum atemlosen Bericht.

Die Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin hat gerade beim Sender Freies Berlin einen Radio-Essay über die Wurzeln des ostdeutschen Rassismus produziert, schon warten die nächsten Projekte auf sie. Doch erst einmal kommen die "Brüdern und Schwestern". Wenn sie ihr Buch am Mittwoch im Literaturhaus vorstellt, tritt Freya Klier erstmals seit zehn Jahren wieder zusammen mit dem Liedermacher Stephan Krawczyk auf, ihrem geschiedenen Mann. Mit ihm wurde sie vor zwölf Jahren zwangsweise ausgebürgert, nachdem sich beide in der kirchennahen Opposition engagiert hatten. Krawczyk wird die Lesung musikalisch begleiten.

Freya Klier sitzt auf einem Ledersofa im Haus des Rundfunks, raucht und erzählt, wie sie die Protagonisten ihres Buches gefunden hat. Aufsteiger interessieren sie nicht. Der Typ nassforscher Unternehmer kommt in ihrem Buch höchstens als Randfigur vor. Und überhaupt: "Es ist nicht so, dass es hier nur Gewinner und da nur Verlierer gibt."

Deshalb stammen ihre Anti-Helden aus beiden Teilen der Republik. Kettel zum Beispiel, der obdachlose Sachse, ist ein ehemaliger politischer Häftling. Nach seinem Freikauf in die Bundesrepublik ist er in den wirtschaftlichen Ruin getrieben worden. Freya Klier kennt den Mann seit ihrer gemeinsamen Zeit am Senftenberger Theater, wo er im Opernchor sang. Jetzt singt Kettel auf einem Pariser Bahnhof. Ein anderer, Kommunist aus Hamburg, siedelte vor lauter Begeisterung in die DDR über. Als er das System durchschaute, versuchte er, ihm wieder zu entkommen und wurde auf der Flucht verhaftet. Ein Dritter, Lehrer aus Nordrhein-Westfalen, wird an einer Brandenburger Schule gemobbt, weil er einerseits undogmatisch ist, seinen Schülern andererseits ihre mangelhaften Geschichtskenntnisse vorhält. Opfer? Oder Täter? Nein, so einfach sei das nicht. Selbst dem linientreuen Stasi-Offizier lässt Klier noch menschliche Züge.

Sie habe bei ihren Recherchen immer nach den biografischen Brüchen gesucht, sagt sie. Unebenheiten machten Geschichten interessant. Von sich selbst sagt die 1950 Geborene, dass ihr eigener Lebenslauf von solchen Wechselfällen verschont geblieben sei. Und die biografische Skizze, die Freya Klier auf ihre Homepage gestellt hat (www.freya-klier.de), bricht seltsamerweise mit ihrer Übersiedlung nach West-Berlin im Jahr 1988 ab. Seitdem arbeite sie als freischaffende Autorin und Regisseurin, heißt es lakonisch. Als gäbe es nichts Wesentliches mehr zu berichten.

Als Publizistin sucht Freya Klier nach "Menschen, die sonst nie in den Medien vorkommen würden". Menschen wie die Dresdner Jüdin Johanna zum Beispiel, der sie einen Dokumentarfilm gewidmet hat. Johanna wurde in der Nazizeit inhaftiert, vergewaltigt, zwangssterilisiert. In der DDR traf sie auf ihren einstigen Peiniger, in Gestalt eines SED-Funktionärs. In dem Bemühen, ihren Fall aufzuklären, wurde sie - als angebliche Kriminelle - ein weiteres Mal verhaftet. Das vereinte Deutschland verweigerte ihr die Rehabilitierung, da der politische Hintergrund des Dramas zunächst verborgen blieb. Freya Klier hat sich durch Aktenberge gelesen und die Wahrheit über den Mann ans Licht gebracht. Ihre Arbeit endet eben nicht damit, dass sie Menschen filmt, befragt, porträtiert. Dank Kliers unermüdlicher Recherchen wurde Johanna schließlich rehabilitiert. Aus der ehemaligen Bürgerrechtlerin ist eine Geschichten-Finderin, eine Erzählerin der kleinen Leute geworden. Oft sind es Frauenschicksale, die sie behutsam aufrollt: Eins ihrer Bücher handelt von deutschen Frauen, die in sowjetische Arbeitslager verschleppt wurden. Nicht selten ist Freya Klier die Erste, die solche Schicksale nach Jahren des Schweigens zu hören bekommt. Die überhaupt zuhören will. So ist sie eine der wenigen prominenten Bürgerrechtlerinnen, die im Telefonbuch stehen. Sie meint, dass sie erreichbar bleiben müsse, nicht nur für ihre Interviewpartner, sondern auch für jeden anderen auch.

Sie beklagt, dass dem Osten die Auseinandersetzung über so vieles fehle. Eine ganze "Václav-Havel-Generation" sei vor dem Zusammenbruch des Sozialismus in den Westen vertrieben worden, all die kritischen Intellektuellen. Und die fehlen. Freya Klier selbst ist fast bis zuletzt geblieben. Ihre 27-jährige Tochter wohnt im Prenzlauer Berg. "Der ist völlig egal, ob jemand aus dem Osten oder aus dem Westen kommt!"

Freya Klier liest am Mittwoch, 20 Uhr, im Literaturhaus (Fasanenstraße 23) aus "Wir Brüder und Schwestern" (Ullstein Verlag, München 2000, 34 Mark). Ihr Essay über Rechtsextremismus wird am 10.9., 18.05 Uhr, auf RadioKultur gesendet.

Josefine Janert

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