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Kultur: „Wir haben unserem Wunschbild zugejubelt“

Der eine war noch Student, der andere schon Professor. Eines verbindet Winfried Fluck und Heinz Fortak bis heute: Das Gefühl von Gemeinschaft, das sie mit den etwa 20 000 Zuschauern teilten, die am 26. Juni John F. Kennedy vor dem Henry-Ford-Bau lauschten, haben beide so nie wieder erlebt. Zwei Zeitzeugen erinnern sich.

Professor Fortak und Professor Fluck, wie war die Stimmung in den Tagen und Stunden vor dem Besuch?

HEINZ FORTAK: Bereits am 21. Juni 1963 hatte der amerikanische Außenminister Dean Rusk eine bedeutende Garantie-Erklärung für die Sicherheit West-Berlins abgegeben. Diese bestätigte Kennedy nun bei seinem Besuch. Das war für uns West-Berliner natürlich unvorstellbar wichtig, denn wir waren durch die Drohung des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow, die eigentlich durchgehend bestand und nach Kennedys Abreise erneuert wurde, immer verunsichert.

WINFRIED FLUCK: Die Bedeutung des Besuchs war deshalb allseits gegenwärtig, es herrschte große Erwartung, auch Begeisterung. Auch ich bin in West-Berlin großgeworden, in einem Kreuzberger Arbeiterhaushalt. Wir haben das sehr intensiv miterlebt, die Insellage der Stadt, auch schon vor der Bedrohung durch Chruschtschow. Wenn man in die Bundesrepublik reiste, wurde man unmittelbar konfrontiert mit der Abhängigkeit, die für West-Berlin bestand. Wir hatten im Grunde keine Möglichkeit der Gegenwehr, wir waren ganz und gar abhängig von den Alliierten und deren Unterstützung.

Können Sie die Stimmung aus Sicht eines Studenten beschreiben?

FLUCK: Bei den jüngeren Leuten, nicht nur bei den Studenten, hat sich die Bedeutung dieses Besuchs und der Figur Kennedys vermischt mit bestimmten Haltungen zur amerikanischen Kultur. Kennedy kam praktisch als ein amerikanischer Held nach Berlin – nicht nur wegen der politischen Zusagen, sondern auch, weil er bestimmte Eigenschaften und Erscheinungsformen der amerikanischen Kultur verkörperte, die der jüngeren Generation sehr sympathisch waren.

Wie war das unter den Professoren?

FORTAK: Die Zustimmung zur Person Kennedy war einhellig positiv, bei mir vielleicht besonders stark. Denn ich war ja 1960 mit dem Angebot einer permanenten Position einem Ruf an eine US-amerikanische Universität gefolgt und mit meiner Familie in die USA übergesiedelt. Am Schicksal dieses Landes nahmen wir schon regen Anteil. Selbstverständlich standen wir auch im Oktober 1962 während der Kubakrise voll und ganz hinter ihm. Seine feste Haltung in dieser gefährlichen Situation hat unser Vertrauen in ihn sehr bestärkt.

Welche Passage der Rede ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

FORTAK: Mich hat die Rede insgesamt sehr berührt, obwohl es Aussagen waren, die wir erwartet hatten und die wir auch kannten: Die erneute Betonung der Freiheit der westlichen Welt und die Abgrenzung gegenüber der Ideologie und dem Machtanspruch des Ostens in seiner Rede entsprachen unseren Überzeugungen.

FLUCK: Ich würde auch sagen, das war damals geläufige Rhetorik. Die Formulierungen waren eingebürgert, man musste als amerikanischer Politiker versichern, dass man Berlin unterstützt, dass man Bündnistreue üben wird, dass es da keinen Zweifel geben kann. Ich erinnere mich weniger an einzelne Formulierungen als vielmehr an die ganze Atmosphäre auf dem Platz, die enorme Erregung, die da herrschte, der anschwellende Beifall. Es war ja eigentlich wie ein Königsbesuch. Da ist tatsächlich dieser Politiker nach Berlin gekommen, praktisch das Äquivalent eines Königs der westlichen Welt! Der Empfang auf den Straßen Berlins war dementsprechend.

FORTAK: Meine Gefühle waren auch beeinflusst durch die räumliche Umgebung. Ich stand erhöht hinter Kennedy vor dem Henry-Ford-Bau, dem damaligen Hauptgebäude der Universität, und konnte weit sehen: Menschen über Menschen, wohin man schaute. Der Henry-Ford-Bau und die Universitätsbibliothek waren Gebäude, die mit Spenden der Amerikaner gebaut worden waren – wir hatten also unseren Campus von diesen Menschen geschenkt bekommen, von denen einer gerade sprach! Ich empfand Dankbarkeit auch deshalb, weil die Amerikaner ja die Gründung der Universität 1948 überhaupt erst ermöglicht hatten.

FLUCK: Es gab das Selbstverständnis der Freien Universität als fortschrittliche Hochschule. Sie verstand sich im Grunde als Neubeginn, auch innerhalb der deutschen Universitätslandschaft. Und Fortschritt war damals sehr stark mit Amerika assoziiert. Kennedy als der jugendliche Repräsentant dieses Landes, voller Vitalität, erinnerte einen daran -– und man dachte: Wir sind doch eigentlich auf einem guten Weg.

Gab es damals viele Sicherheitsvorkehrungen?

FORTAK: Es gab keine Durchsuchungen. Bis zur Aufstellung hinter Kennedy wurden wir überhaupt nicht kontrolliert. Ich hatte eine Leica offen in der Hand, mit der ich, nahe hinter Kennedy stehend und für jeden sichtbar, die Situation fotografierte. Es hätte ja auch eine Waffe sein können. Von Sicherheitsvorkehrungen konnte man somit gar nicht reden.

FLUCK: Ich stand auf der anderen Seite von der Boltzmannstraße, recht nah am Präsidenten. Ich hatte einen sehr guten Blick auf Kennedy – da gab es keine Überprüfung irgendeiner Art, man hätte alles Mögliche anschleppen können. Es gab eben die feste Überzeugung: Der Mann kommt, um uns zu helfen, da wird doch niemand so verrückt sein und etwas gegen ihn planen. Überhaupt kann man das, was an dem Tag geschah, nur vor der damaligen Situation West-Berlins begreifen. Das ganze Denken war sehr klar geteilt. Es gab die eine Seite, die einen bedrohte, und die andere Seite, die bereit war, einen zu retten. Und wenn der Repräsentant dieser Seite kam und sprach, dann konnte der Jubel gar nicht laut genug sein. Es war ein wunderbares Gemeinschaftsgefühl.

FORTAK: … ein Gefühl, das nie mehr wiederkam.

FLUCK: … nein, das nie mehr wiederkam. Das ist vielleicht die stärkste Erinnerung. Später ist die Pluralisierung der Gesellschaft so vorangeschritten, das wäre gar nicht mehr denkbar heute.

Herr Fluck, Sie haben sich später auch als Wissenschaftler mit dem Mythos Kennedy befasst. Was haben Sie herausgefunden?

FLUCK: Die politischen Gründe für die Faszination Kennedys kennen wir, es ist die starke Unterstützung Berlins, aber die Faszination geht ja weit darüber hinaus. Kennedy ist zu einer Art Mythos geworden. Wir haben uns allerdings ein Bild von ihm gemacht, das völlig falsch war. Der wahre Kennedy war ein ganz anderer Mensch. Er war weder besonders liberal – anfangs war er gegen die Bürgerrechtsbewegung, weil er die Stimmen der Südstaatendemokraten brauchte, und er gehörte sogar zeitweilig zu den Unterstützern des Kommunistenjägers McCarthy. Noch stimmte das Bild von Vitalität und Stärke: Kennedy war chronisch krank, so krank, dass er bei öffentlichen Vorträgen trotz Stützkorsetts nur mühsam aufrecht stehen konnte. Und er war ein notorischer Fremdgänger. Aber in der Öffentlichkeit leben wir mit Bildern von Personen, nicht mit den Personen selbst. Die Bilder sind zum Teil bewusst konstruiert, aber sie entstammen auch unseren Wunschvorstellungen. Wir wollten diesen Kennedy damals so haben, wie er erschien, er war im Grunde unsere Projektion. Es war letztlich unser Wunschbild, dem wir zugejubelt haben.

FORTAK: Aber die Illusion war schön (beide lachen).

Können Sie sich erinnern, wie und wo Sie von der Ermordung Kennedys im November 1963 erfuhren?

FLUCK: Sowohl meine Frau als auch ich können uns genau daran erinnern. Ich war zuhause und saß mit drei Leuten zusammen, da ging die Tür auf und jemand rief die Botschaft ins Zimmer. Es war ein traumatisches Erlebnis, die Erinnerung daran werde ich nie vergessen.

FORTAK: Auch ich habe die Situation, in welcher die Nachricht eintraf, als ein Bild völlig vor Augen. Ich hatte einen westdeutschen Kollegen zum Kolloquium eingeladen und ihn danach zu mir nach Hause. Plötzlich hörten wir diese Nachricht von Kennedys Ermordung, die uns erstarren ließ. Wir saßen lange wortlos da. So stark war der Eindruck, dass er bleibend verankert ist.

Hat die Ermordung Kennedys zu seinem Mythos beigetragen?

FORTAK: Bei mir persönlich nicht.

FLUCK: In der Öffentlichkeit schon. Auch wenn es makaber erscheint, gehört der Tod zu einem wahrhaften mythischen Helden. Die Figur Kennedys ist zum Mythos geworden, das heißt, auch Kritik kann einer solchen Figur nichts mehr anhaben. Deshalb haben auch die kritischen Biografien über Kennedy seinem positiven Image in der Öffentlichkeit nicht geschadet. Ein Mythos steht über den moralischen Kategorien, an denen andere Menschen gemessen werden. Kennedys Tod gehört zu seinem Mythos. Wenn Kennedy weitergelebt hätte, wäre er mit der wachsenden Kritik am Vietnamkrieg konfrontiert worden, und er hätte sich nicht anders verhalten können als sein Nachfolger im Präsidentenamt Lyndon Johnson, er hätte sich auch gar nicht anders verhalten wollen. Dann wäre er entzaubert worden.

Wenn sie heute am Henry-Ford-Bau vorbeikommen: Stehen Ihnen die damaligen Bilder noch vor Augen oder bekommen Sie sogar eine Gänsehaut?

FLUCK: Ich verbinde den Henry-Ford-Bau rückblickend mit der Studentenbewegung und den Ereignissen der Folgejahre, die waren letztlich für mich und meine Biografie wichtiger als der Kennedy-Besuch. Doch die Rede vor dem Henry-Ford-Bau habe ich in starker Erinnerung, weil es eine besondere Ehre war, dass dieser Politiker an die Universität gekommen ist und dort eine Rede gehalten hat. Dadurch, dass die Universität eine solche Beachtung fand, war es ein nachdrückliches Ereignis, bei dem man als Person Teil einer universitären Gemeinschaft wurde.

FORTAK: Der Platz vor dem Henry-Ford-Bau weckt bei mir jedes Mal die Erinnerung an die Rede John F. Kennedys. Das Ereignis von damals berührt mich bis heute.

Das Interview führten Kerrin Zielke und Carsten Wette.

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