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Kultur: Wir sind Edgar

Schrille Schreie, letzte Walzer: Resümee des Berliner Festivals „Tanz im August“

Von Sandra Luzina

Das ist das Ende: Als Meg Stuart und Philipp Gehmacher in der Volksbühne einen letzten Walzer zum Ausklang vom „Tanz im August“ tanzen, ist einem fast wehmütig zumute. „Maybe Forever“ ist wie ein langer Abschied. Das Duett kreist um Liebe und Trauer, Verlangen und Verlust, die Musik-Collage bietet dazu Neu-Romantiker vom Schlage eines Rufus Wainwright auf. Die Zeiten von Coolness und Ironie sind definitiv vorbei.

„Maybe Forever“ wäre das ideal Stück zum Schlussmachen gewesen, doch die Festivalmacher schoben noch einen Rausschmeißer nach. In „Haut Cris“ übt Vincent Dupont sich 50 Minuten lang in Wimmern und Wehklagen, der Jammerlappen-Sound ist besonders unerträglich, weil er auch noch technisch verstärkt wird. Womöglich ist es das scheußliche Mobiliar in der winzigen Wohnbox, das seine Depression auslöst. Und richtig, bald greift Dupont zur Kettensäge, um alles kurz und klein zu holzen. Männliche Sich-Freisägen als ultimativer Stimmungskiller.

Ungetrübte Freude herrscht dagegen bei den Veranstaltern. Der Publikumszuspruch in diesem Jahr war enorm, die Aufführungen vom „Tanz im August“ waren alle nahezu ausverkauft. Grandios geriet die Eröffnung durch Anne Teresa de Keersmaekers und ihr Ensemble Rosas, das soeben bei der Kritikerumfrage von „ballettanz“ zur Compagnie des Jahres gekürt wurde. „Der „Steve Reich Evening“ war ein faszinierender Dialog zwischen Tanz und Musik – und bot viel Raum für choreografischen Eigensinn. Überhaupt waren es die Produktionen mit Live-Musik, die besonders begeisterten.

Nachdem es eine Weile fast verpönt war, zu Musik zu tanzen, erblühen jetzt innige Liaisons zwischen Choreografen und Klangvirtuosen. Wie bei Xavier Le Roy: Als der Franzose Simon Rattle die Berliner Philharmoniker bei „Le Sacre du Printemps“ dirigieren sah, war er von dessen gestischen Repertoire sofort fasziniert. Die Bewegungen des Maestros lassen sich als Choreografie lesen. Nun steht Le Roy allein auf der Bühne, gibt einem imaginären Orchester die Einsätze oder lässt sich von der Musik mitreißen. Das ist zwar gut kopiert, doch leider löst er sich kein einziges Mal vom Dirigier-Gestus. Und die musikalischen Leidenschaften scheinen wie geborgt – insofern hat dieses Solo etwas Vampiristisches.

Die Berliner Szene, diesmal stark vertreten, sorgte für gemischte Gefühle. Eszter Salamon hatte für „And Then“ eine spannende Recherche unternommen – die Ungarin hat nach ihren jüdischen Namensschwestern gefahndet und lässt einige davon im Video aus ihrem Leben erzählen. Salamon findet jedoch keine Form für diese disparaten biografischen Erzählungen, so driftet der Abend bald in Selbstbespiegelung ab. Schlimmer noch als die feministisch-öden Frauenabende – und davon gab es einige – war der offensiv zur Schau getragenen Schwulen-Narzissmus von Nicola Mascias „Ladies first“ im Radialsystem.

Die zweite Produktion aus dem Umfeld von Sasha Waltz war dagegen höchst vergnüglich: Dass Claudia de Serpa Soares sich mit Grayson Millwood zusammengetan hat, hat vor allem körperliche Gründe: Er überragt sie um mindestens zwei Haupteslängen. Zusammen sind sie Edgar: In dem großen plumpen Edgar steckt nämlich noch ein kleiner zarter Edgar. Der Höhepunkt ist eine atemberaubende Zirkusnummer: die Portugiesin, eine traurige Träumerin, triumphiert als Poetin der Lüfte. Der Abend grenzt an Zauberei. Und er beweist aufs Schönste: In uns allen schlummern ungeahnte Möglichkeiten.

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