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Kultur: Wir singen alle im selben Boot

In Deutschlands Musical-Hauptstadt Hamburg geht jetzt täglich die „Titanic“ unter

Die Advents-Wochenenden bilden nur die Spitze des Eisbergs. Wann immer unter fadenscheinigen Alibis extralange Einkaufsnächte veranstaltet werden, strömen die Massen zusammen – weniger, um zu konsumieren, als vielmehr, um einfach zusammen zu sein. Die Furcht vor der Einsamkeit daheim, mit Internet oder dem Fernsehbildschirm als einzigem Gegenüber, treibt die Leute zu den urbanen Massenversammlungsplätzen: in die Einkaufspassagen, ins Kino – oder ins Musical.

So trifft man sie in den drei großen Vergnügungstempeln der deutschen Unterhaltungshauptstadt Hamburg, die Ausflügler auf der Suche nach der verlorenen Gemeinsamkeit. Paare, Familien und anderer Kleingruppen stehen dicht gedrängt in den Foyers, begierig auf das professionell organisierte Kollektivereignis. Sie wollen das All-Inclusive-Paket, den Mix aus Live-Gefühl und verwertbaren Erlebnissen, mit denen sich die eigene Sprachlosigkeit überdecken lässt. Darum breitet sich kurz vor Vorstellungsbeginn in Musicaltheatern oft eine Stille aus, die weniger von gespannter Vorfreude herrührt als schlicht vom sprachlosen Warten auf den Start des rettenden Spektakels, das endlich wieder Gesprächsstoff bietet – genau wie die Auslagen beim Schaufensterbummel.

Natürlich spielt auch der Wiedererkennungseffekt eine Rolle. Man will Dinge hören und sehen, die einem vertraut und überdies mit positiven Erinnerungen verknüpft sind. Darum verkaufen sich im Musical-Business derzeit Hitparaden und Film-Remakes am allerbesten. In Hamburg laufen gleich drei davon, alle produziert von der holländischen Stage Holding, dem Fast-Monopolisten in diesem Marktsegment: „Der König der Löwen“, „Mamma Mia!“– und nun auch „Titanic“. Disney, Abba und Leonardo DiCaprio: Das sind die mehr oder weniger offen ausgesprochenen Reizworte, die Millionen potenzieller Ticketkäufer aktivieren sollen. Dass sich dann die Stücke auf der Bühne als Kreationen erweisen, die wenig mit jenen lockenden Vorbildern verbindet, hat durchaus mit Kunst zu tun. Denn die Shows sind alles andere als Klonprodukte. Der Löwenkönig verwandelt den Zeichentrickfilm in ein Zaubertheater, gleichzeitig archaisch und technisch raffiniert, ein Maskenspiel, das afrikanische Theaterformen ebenso ernst nimmt wie die Musiktraditionen des Kontinents. Lediglich in den Dialogen gibt es Zugeständnisse an eine vermeintlich von Fernseh-Comedys konditionierte Zielgruppe.

Eine Tochter, drei Väter

Auch „Mamma Mia!“, die Nachnachfolge-Produktion der „Cats“ im Operettenhaus an der Reeperbahn, gelingt der Sprung von der Evergreen-Abspulmaschine zum eigenständigen Entertainmentstück. So wie „Wiener Blut“ einst das Beste von Johann Strauß nach dessen Tod zu einer erfolgreichen Operette montierte, hat Catherine Johnson alle Abba-Hits geschickt in ihrer putzigen Story untergebracht. Die 20-jährige Tochter einer Ex-Girlieband-Sängerin will endlich ihren Vater kennen lernen. Doch die Mutter hatte zur fraglichen Zeit Sex mit drei Männern... Weil die Dramaturgie einschließlich der großen Pathosbremse („The winner takes it all“) kurz vor dem Happy-End („I do! I do! I do!“) bestens funktioniert, weil Ruth Deny eine witzige Dialogübersetzung gelungen ist und Carolin Fortenbacher als stimmgewaltige Mamma ein hoch motiviertes Ensemble anführt, haben hier nicht nur die wild entschlossen mitklatschenden 30- Somethings ihren Spaß.

Nachdem sich „Mamma Mia!“ in den ersten fünf Spielwochen bereits als Kassenschlager erwiesen hat, startete die Stage-Holding ein paar hundert Meter weiter nördlich nun ihr nächstes Projekt: Maury Yestons „Titanic“-Musical soll die für Andrew Lloyd Webbers „Phantom der Oper“ errichtete Neue Flora mit Publikum fluten. Dabei hat sich Konzernchef Joop van den Ende nicht lumpen lassen. Weil er im Gegensatz zu seinem Ex-Konkurrenten Peter Schwenkow nicht als „Ticketverkäufer“, sondern als Impresario gelten möchte, investiert er nicht nur in die Shows, sondern schmückt seine Häuser auch mit zeitgenössischer Kunst aus der eigenen Sammlung. Wo früher weiße Bodenfliesen und Plastikdecken auf wackeligen Bistrotischen den Charme eines Provinz-Einkaufszentrums verströmten, wandeln die Besucher der Neuen Flora nun auf weichen Teppichen zwischen Skulpturen und Ölgemälden.

Joop van den Ende, der in Berlin jüngst neben dem Musicaltheater am Potsdamer Platz auch das Theater des Westens erworben hat, will die Hochkulturtempel mit ihren eigenen Waffen schlagen. Mehrfach hat der Niederländer angekündigt, Deutschland bald mit selbst produzierten Sprechtheater-Produktionen zu überschwemmen. Mit der Broadway-„Titanic“, die er zuvor schon in Amsterdam herausbrachte, setzt er nun unverhohlen auf Überwältigungs-Oper.

Der Komponist Maury Yeston, dessen anspruchsvolle Werke „Grand Hotel“ und „Nine“ einst Helmut Baumann am Theater des Westens präsentierte, entpuppt sich hier als Giacomo Meyerbeer des Musicals. Seine „Titanic“ ist eine waschechte grand opéra mit prachtvollen Tableaus und effektvollen Ensembleszenen, ein Spektakelstück, wie es auch dem Pariser Publikum der 1840er Jahre gefallen hätte.

Mit dem Luxusliner-Musical ist das Genre einen Schritt vorangekommen – es hat also einen Sprung nach hinten gemacht: Denn genau wie einst die Operette entwickelt sich das Musical gegenläufig zur Musikgeschichte. Was als Zeitsatire begann, tendiert immer mehr zum Historischen. Nach den Komödien kamen die Melodramen, auf die ironischen Entertainmentgenies à la Gershwin, Porter und Loewe folgte Andrew Lloyd Webber, der spätestens mit seinem „Phantom der Oper“ alle Offenbachsche Doppeldeutigkeit hinwegfegte, um sich als Westentaschen-Verdi auf tragische Privatschicksale zu spezialisieren.

Yeston geht nun noch eine Opernkomponisten-Generation weiter zurück. Er orientiert sich an der Musikdramaturgie Meyerbeers, dem Erfinder der „lebenden Bilder“ auf der Bühne. Keine Lovestory will er erzählen, wie James Cameron in seinem Cinemascope-Epos, stattdessen entwirft er das Panorama einer Drei-Klassen-Gesellschaft, entwickelt Parallelhandlungen, lässt die Passagiergruppen gleichzeitig auftreten. Nur im Musiktheater wird akzeptiert, dass mehrere Menschen gleichzeitig verschiedene Texte singen, nur durch die Klammer des Orchesterklangs potenziert sich das Durcheinander zum Gänsehaut provozierenden Pathos – eine Technik, die Meyerbeer vor 160 Jahren perfektionierte und die in Verbindung mit optischer Opulenz immer funktioniert.

36 Sänger, 36 Stars

So auch jetzt in Hamburg. Denn Ausstatter Eric van der Palen zaubert erst wunderschöne Wolkenformationen in den Bühnenhimmel und verpasst dem Luxusdampfer dann ordentlich Schlagseite, während Bernhard Volk im Orchestergraben für den richtigen bombastischen Sound sorgt. Melodien, die sich im Ohr festsetzen, gibt es zwar nicht, aber mit den 36 nahezu gleichberechtigten Rollen ist „Titanic“ mehr ein Chorsolisten-Opus oder, neudeutsch gesagt, ein Teamarbeitsprodukt. Und da berührt sich die alte Opernästhetik dann plötzlich wieder mit der Welt von heute.

Informationen unter 01805/114 113 oder www.stageholding.de

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