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Kultur: Wissenschaft macht Skandal

Ein Lexikon deckt die NSDAP-Mitgliedschaft von Walter Jens und anderen auf. Herausgeber Christoph König im Gespräch

Herr König, am Montag erscheint das von Ihnen herausgegebene „Internationale Germanistenlexikon 1800–1950“. Es hat 2300 Seiten und behandelt über 1500 Personen. Wofür ist so ein Lexikon gut?

Das Lexikon ist eine Grundlage für die weitere Erforschung der Geschichte der Germanistik. Diese hat eine längere Tradition als in anderen Nationalphilologien. Seit den 60erJahren wird insbesondere die NS-Germanistik erforscht, mittlerweile öffnet man den Blick auf die gesamte Geschichte von 1800 bis heute, auch international.

Wie viele Mitarbeiter hatten Sie?

Das Team bestand aus sieben Wissenschaftlern und Bibliothekaren, außerdem waren über 700 freie Mitarbeiter beteiligt und 40 Koordinatoren für die Auslands-Germanistik. Gefördert wurden wir von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Warum der Zeitraum von 1800 bis 1950?

Um 1800 begann die Institutionalisierung des Faches. Um 1950 beginnt die Germanistik sich international wahrzunehmen. Man hätte auch eine Zäsur mit dem Datum 1968 setzen können, aber das hätte den Umfang gesprengt. Der Schlusspunkt 1950 wurde aus dialektischen Gründen gesetzt, um zu zeigen, dass es in der Entwicklung der Germanistik eine Kontinuität gibt: über die Nazizeit hinaus bis in die junge Bundesrepublik.

Walter Jens wird im Lexikon als NSDAP-Mitglied aufgeführt. Er wirft Ihnen vor, dass Sie Gegengutachten hätten einholen sollen in der Frage, ob es Parteimitglieder gab, die von ihrer Mitgliedschaft nichts wussten und keinen Aufnahmeantrag gestellt hatten.

Mehr als ein Jahr vor Erscheinen des Lexikons habe ich alle noch lebenden Betroffenen von den Einträgen in der Mitgliederkartei unterrichtet und ihre Stellungnahmen im Artikel berücksichtigt. Die Texte sind insofern mit den Betroffenen abgestimmt, und sie wissen spätestens seit September 2002, dass diese Eintragung publiziert wird. Auch Walter Jens. Im Lexikon steht bei seinem Artikel der Satz: „In der Mitgliederkartei der NSDAP verzeichnet (1.9.1942; Mitgl.-Nr. 9265911); Anhaltspunkte für die Aushändigung der Mitgliedskarte, die konstitutiv für die Mitgliedschaft wäre (§ 3 Abs. 3 Satzung NSDAP) bestehen jedoch nicht. Auch liegt ein unterzeichneter Antrag nicht vor.“ Damit wird ausdrücklich hervorgehoben, dass aus der Tatsache des Karteieintrags ein Schluss auf die Parteimitgliedschaft ohne weitere Dokumente nicht zwingend gezogen werden kann. Wenn Walter Jens mir jetzt Fahrlässigkeit vorwirft, geht dies am Lexikon vorbei. Eine solche Behauptung wird dort nicht aufgestellt.

Ihr Team arbeitet ja schon seit 1995 am Lexikon. Wieso wurden Jens, Walter Höllerer, Peter Wapnewski und andere erst so spät über die Mitgliedskartei informiert?

Zunächst haben die Recherchen nur unregelmäßig Informationen ergeben. Wir haben im Verlauf des Projekts erkannt, dass wir einen systematischeren Weg einschlagen müssen und sind dann mit den Listen ins Bundesarchiv Berlin gefahren und haben sie dort abgearbeitet. Deshalb der späte Zeitpunkt der Information.

Die Betroffenen waren in der Nazizeit sehr jung. Sie eignen sich kaum als Beispiel für die Verstrickung der Germanistik in die NS-Ideologie. Wieso jetzt die Aufregung in den Medien?

Die Fachgeschichtsforschung begann in Deutschland in den Sechzigerjahren mit kritischen Fragen zur NS-Vergangenheit der akademischen Väter. Die momentane Aufregung resultiert wohl daraus, dass es mit Jens, Wapnewski und Höllerer die urbanen Aufklärer selbst sind, von denen wir nun Einträge in der Mitgliederkartei gefunden haben.

Hatten NS-hörige Germanisten einen wesentlichen Einfluss auf die Nachkriegsgermanistik?

Es gibt dazu mehrere Forschungsprojekte. Wir wissen, dass der Einfluss der Nazi-Generation auf die Nachkriegsgermanistik erheblich war, nicht nur durch personelle Kontinuitäten, sondern auch auf sehr untergründige Weise in den Forschungsansätzen. Mit unserem Lexikon kann man die Verknüpfung von Karriereinteresse, Wissensanspruch und politischem Verhalten am Einzelfall rekonstruieren.

Was ist für Sie die überraschendste Erkenntnis dieses Lexikons?

Das Nachdenken über das Verhältnis von Vorgegebenem und Eigensinn. Und über die Verantwortung des Einzelnen. Die Frage ist, wie man die eigene literaturwissenschaftliche Praxis aufgrund historischer Erkenntnis verbessern kann. Denn ich bin Literaturwissenschaftler und erst von daher Fachhistoriker.

Das Gespräch führte Marius Meller.

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