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Triptychon „Planimetric motion“ aus dem Jahr 1961

© Andreas Freytag, Daimler Art Collection, Stuttgart / Berlin

Adolf Fleischmann in zwei Ausstellungen: Wo der Strich endet

Flirrende Linien: Zwei Ausstellungen im Medizinhistorischen Museum der Charité und im Haus Huth würdigen den abstrakten Maler Adolf Fleischmann.

Was hat abstrakte Malerei im Medizinhistorischen Museum der Charité zu suchen? Stellt man denn Wachsmodelle von Körperteilen oder anatomische Präparate in Kunsthallen aus? Allerdings. Im Hamburger Bahnhof waren schon Damien Hirsts in Formaldehyd eingelegte Tiere zu sehen. Für Wachsabformungen, sogenannte Moulagen, interessierte sich bereits Marcel Duchamp. Und vor einem Jahr endete im Dresdner Hygiene-Museum die Schau „Blicke! Körper! Sensationen!“. Neben medizinischen Modellen wurde dort ein künstlerisch motiviertes Wachskabinett eingerichtet, mit Werken von Duchamp, Hirst, Paul McCarthy, Bruce Nauman oder Rosemarie Trockel.

Die Malerei Adolf Fleischmanns (1892 bis 1968), einer der Väter der Op-Art, hat mit Medizin zwar nichts am Hut, der Künstler schon. Er arbeitete ab 1917 in Zürich als Moulagenbildner und verdiente sich noch 1952 als 60-jähriger Einwanderer in New York die ersten Dollars mit dem Reparieren solcher Modelle. Dass seine Moulagen und Gemälde nun in der Charité-Sammlung zusammenfinden, geht auf einen Zufall zurück. Das Ingolstädter Medizinhistorische Museum tat sich für eine Fleischmann-Schau mit dem örtlichen Museum für Konkrete Kunst zusammen. In beiden Häuser befanden sich seine Werke. Vom Schaffen Fleischmanns außerhalb der jeweiligen Sparte wussten die Direktorinnen der nur zehn Gehminuten voneinander entfernten Museen bis zur gemeinsamen Ausstellung nichts. Jetzt ist „Surfaces“ auch in Berlin zu sehen.

Die Nazis verhindern seine erste Einzelausstellung in Deutschland

Fleischmann wird 1892 in Esslingen geboren, geht 1908 an die Kunstgewerbeschule in Stuttgart und wechselt 1911 dort an die Königliche Kunstakademie. Die Anregungen seines Lehrers Adolf Hölzel, ein früher Protagonist der Abstraktion, greift er erst Jahre später auf. „Landschaft mit Baum“ von 1913, das früheste Werk der Ausstellung, malte er im Stil des schwäbischen Impressionismus. Einer Fülle von Bildern bis zum Spätwerk der 60er Jahre zeigt die Entwicklung Fleischmanns eindrücklich auf. Seine Konsequenz erstaunt umso mehr, als sein Lebensweg steinig war, von zwei Weltkriegen, Ortswechseln, Geldnot und Jobzwängen geprägt.

Mit Bild-Text-Tafeln, Gemälden, Zeichnungen sowie außerkünstlerischen Exponaten spürt der erste Ausstellungsteil diesem filmreifen Leben nach: Freiwilliger Kriegsdienst, 1915 schwere Verwundungen, 1917 Umzug nach Zürich. Zehn Jahre arbeitet er dort als Mouleur und technischer Zeichner. Vom Expressionismus eines Franz Marc inspirierte, lyrisch-abstrakte Gemälde bezeugen den Wunsch, sich ausschließlich der Kunst zu widmen. 1927 verlässt er die Schweiz, mietet ein Atelier in Berlin, reist durch ganz Europa. 1933 verhindern die Nazis seine erste Einzelausstellung in Deutschland. Fleischmann geht ins Ausland, züchtet Tauben auf Mallorca, flüchtet über Italien nach Paris. Dort setzt er sich mit Delaunay, Braque und Kandinsky auseinander. In den 40ern unterstützt er die Résistance, versteckt sich in Südfrankreich, wird mehrfach interniert, kehrt ins befreite Paris zurück und klaubt im verwüsteten Atelier die Reste seiner Bilder auf. Nervenzusammenbruch. 1952 geht er mit seiner Frau Elly an Bord der Queen Elizabeth. In New York fängt der 60-Jährige neu an, malt wie besessen. Die Wolkenkratzerarchitektur inspiriert ihn. Felder horizontaler Lamellen, über denen vertikale Linien schweben – dieses Grundmuster variiert er fortan, mit einer unerschöpflichen Lust an Farbklängen. Fleischmanns Gemälde sind gemalte Musik – wie Piet Mondrians Jazzbilder, an die einige seiner späten Werke erinnern.

Eingebettet in die Präsentation sind Vitrinen zur Technik des Wachsabgusses sowie histologische Mikroskop-Zeichnungen aus der Zürcher Zeit – passend zum Charité-Umfeld. Im Nebenraum treten abstrakte Gemälde an den Wänden gegen veristische Wachsabgüsse inklusive Krankengeschichten in den Vitrinen an: Jeder Leberfleck, jedes Hautschüppchen, jede Wunde wirkt echt. Starkstromverbrennungen am Torso eines Mannes, ein Brustkorb mit Röntgenschaden, ein vom Basalzellkarzinom verunstaltetes Gesicht. Madame Tussaud hätte Fleischmann sofort als Modelleur eingestellt.

Wo beginnt die Fläche, wo endet der Strich?

Es ist eine interessante, zugleich respektlose Ausstellung. Noch nie wurden Kunstproduktion und Brotberuf eines ernsthaften Künstlers derart explizit nebeneinandergestellt. Lyonel Feininger zeichnete in jungen Jahren Comics, bevor er zum Maler der Moderne aufstieg. Seine Strips werden ab 23. Juni in der Frankfurter Schirn Kunsthalle in der Themenschau „Pioniere des Comic“ gezeigt. Doch niemand würde es wagen, eine Feininger-Retrospektive zur Hälfte mit Cartoons zu bestreiten. Oder gegen Gerhard Richters Willen dessen DDR-Auftragswerke präsentieren. Der Unterschied: Die Genannten zählen zum festen Kanon der Kunstgeschichte, Fleischmann (bisher) nicht. Im Pressetext wird der Maler, der gewiss heftig widersprechen würde, zum „Grenzgänger zwischen Kunst und Medizin“ erklärt, werden seine Wachsarbeiten kurzerhand ins „Gesamtwerk“ eingemeindet. „Die Oberflächen – Surfaces – stellen ein Bindeglied“ zwischen beiden Feldern dar, so die These.

Die zweite Berliner Fleischmann-Ausstellung im Haus Huth rehabilitiert den Künstler. Zu sehen sind vorrangig Werke seiner New Yorker Reifezeit. Sammlungsleiterin Renate Wiehager setzt einmal mehr auf kunstinterne Dialoge, sie konfrontiert Fleischmann mit zwei zeitgenössischen Künstlern. Je ein Werk von Hartmut Böhm und Andreas Schmid ergänzen den Parcours, wobei Schmids Lichtstelen besonders gut mit Fleischmanns Strukturen harmonieren. Im Haus Huth ist zu sehen, wie er Vibrationseffekte mit nebeneinanderliegenden Strichlagen erzeugt: Kinetische Malerei. Die an Kandinsky geschulte geschwungene Linie der Vierziger weicht im folgenden Jahrzehnt einer rechtwinkligen Struktur, die nie starr wirkt, denn Fleischmann trägt die Farbe locker auf. Ab den späten Fünfzigern wird die Pinselschrift sogar lapidar und grob, sie weist auf die postmoderne Malerei eines Günther Förg.

„Man könnte sich fragen“, schreibt Fleischmann in den Sechzigern, „wo die Fläche beginnt und wo der Strich endet und diese Bezeichnung nicht mehr verdient.“ Die Beziehung zwischen flimmernden Linien und flächigen Blöcken ist ein zentrales Thema des Spätwerks, auch in seinen Reliefs. Aus seinen letzten Lebensjahren stammt ein Triptychon – Fleischmann hat in den USA endlich den ersehnten Erfolg und arbeitet mit größeren „amerikanischen“ Formaten.

Medizinhistorisches Museum der Charité, Charitéplatz 1, bis 11.9.; Di–So 10–17, Mi–Sa 10–19 Uhr, Katalog 28 €. Daimler Contemporary Berlin, Alte Potsdamer Str. 5, bis 6. 11.; Mo–So 11–18 Uhr, Katalog 18 €.

Jens Hinrichsen

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