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© Waner Bros.

"Wo die wilden Kerle wohnen": Der Maxismus lebt!

Monster mit Herz: Maurice Sendaks Kinderbuch-Klassiker „Wo die wilden Kerle wohnen“ kommt ins Kino.

Unsere Autorin war Mitte der 60er Jahre Volontärin beim Züricher Diogenes-Verlag, als dieser Maurice Sendaks Bilderbuch „Where The Wild Things Are“ auf Deutsch herausbrachte. Claudia Schmölders wurde mit der Übersetzung des kurzen Texts beauftragt. Für den Tagesspiegel hat sich die heute in Berlin lebende Kulturwissenschaftlerin die Verfilmung des Klassikers angeschaut.

So beginnen amerikanische Märchen. Es waren einmal zehn Sätze, zwanzig Bilder und rund 340 Wörter, die kamen 1963 zusammen zur Kinderbuchwelt – und schafften es 2009 bis ins Weiße Haus. Barack Obama las dort an Ostern Maurice Sendaks Klassiker „Wo die wilden Kerle wohnen“.

Wohl kein Kinderbuchautor seiner Generation – Sendak ist heute 81 – hat weltweit so viel Lob auf sich gezogen wie der fantastische Zeichner aus polnisch-jüdischer Familie. Allein die deutsche Ausgabe von 1967 verkaufte sich fast eine Million mal. „An dem Abend, als Max seinen Wolfspelz trug“: Wer in den letzten 46 Jahren mit Kinderbüchern zu tun hatte, sei’s als Vorleser, sei’s als Kind, wird sich daran erinnern. Die Geschichte mit ihren zehn Sätzen – in der von mir angefertigten deutschen Version wurden es 20 – erzählt vom kleinen Max, der lauter Unsinn treibt und von der Mutter zur Strafe ohne Essen ins Bett geschickt wird.

Im Traum segelt er übers Meer zu den wilden Kerlen, monströsen, fein schraffierten Urviechern. „Und jetzt, sprach Max, machen wir Krach!“ Auf sein Kommando tanzen sie durch den Wald, hängen in den Bäumen und quietschen vor Vergnügen. Man hat diesen Satz eine Schlüsselsentenz des 20. Jahrhunderts genannt.

Kann man aus zehn oder zwanzig Sätzen einen 90-Minuten-Film machen? Man kann, und zwar dann, wenn der kleine Max in den wilden Kerlen eine neue Familie findet, eine Familie der Albträume wie der Sehnsucht. Bei ihr erlebt Max alles, was ihm zu Hause fehlt. Die Biester sind zwar ältlich, aber pelzig und warmherzig, sie sind – frei nach Lewis Caroll – mal zänkisch, ja sinnlos gewalttätig, mal aber auch melancholisch. Eine Weile lang lassen sie sich von dem kleinen Prinzen, der ihr König sein will, kommandieren, bauen riesige Nester aus Fels, zeigen ihm Kunsthöhlen und Kunststückchen. Aber dann verführt sie der Junge zu archaischen Bosheiten, bis sie ihn satthaben und nach Strich und Faden entzaubern. Der kleine König ist nur ein Angeber, nur ein kleiner Junge, nur ein Max.

Er fährt nach Hause – und dort erwartet ihn die Menschenmutter wortlos, aber zärtlich mit Suppe und Schokoladentorte, wie im Buch, in dem Max der Duft in die Nase steigt, kaum dass sich alle müde getobt haben, und in dem er auf dem Nachttisch sein Abendessen sieht. „Und es war noch warm.“ Im Film sind es Mutter und Sohn, die irgendwie beide bemerken, dass ein neues Kapitel in der alten Geschichte von Ödipus begonnen hat.

Einen „Picasso des Kinderbuchs“ hat man Sendak genannt, einen Bruder der Brüder Grimm, deren Märchen er in den siebziger Jahren auf altmeisterliche Weise illustrierte. Überhaupt hat ihn die deutsche Romantik inspiriert, die Nachtseite des Lebens. Die Kerle tanzen bei Vollmond herum, „In der Nachtküche“ heißt ein anderes unheimliches Buch von Sendak. Seit den späten siebziger Jahren hat Sendak auch Bühnenbilder und Kostüme entworfen, für Mozarts „Zauberflöte“ (1979) oder Humperdincks „Hänsel und Gretel“ (1997). Schon früh stimmte er einer Opernfassung der Wilden Kerle zu, Anfang der neunziger Jahre dann der Verfilmung. Allerdings wollte Sendak auf keinen Fall traditionelle Märchenfilmware aus dem Hause Disney, auch keine Trickfilmkunst aus den Pixar Studios.

Stattdessen treten jetzt lebende Schauspieler in leicht wiedererkennbaren Kostümen des Bilderbuchs auf, mit erstaunlich menschlicher Mimik und Stimme. Mit Spike Jonze hatte Sendak einen Co-Regisseur und Produzenten aus der Welt der Musikvideos an seiner Seite, den Miterfinder der „Jackass“-Serie mit Skatebordern, die aberwitzige Mutproben absolvieren. Ein Kompagnon, wie geschaffen für eine Reise zu den wilden Kerlen! Wer den Film allerdings mit den Augen des Buchlesers ansieht, muss umdenken. Statt strahlendem Kinderübermut gibt es Problemüberhang, bei jung und alt. Weder ist Max verwandt mit Superman noch die Kerle mit den Zauberern aus Harry Potter. So riesig sie sind, so viel Kraft sie auch haben, hier wirken sie selber enorm bedürftig. Und dafür gibt es eine Erklärung.

In einem Interview zum 80. Geburtstag erzählte Sendak, dass das Buch ursprünglich „Wo die wilden Pferde wohnen“ heißen sollte. Weil er aber angeblich keine Pferde malen konnte, suchte die wohlwollende Lektorin nach anderen Protagonisten. Was hatte er denn gezeichnet? Monster mit spitzen Zähnen und scharfen Krallen, Karikaturen der großen Verwandtschaft, sagt Sendak heute, lauter Onkel und Tanten, die er als kleiner Junge als riesig und bedrängend empfand. Jetzt mussten sie nach seiner Pfeife tanzen!

Der Anglist Tarcisius Schelbert fand Jahre nach Erscheinen der deutschen Ausgabe, dass bei der Übersetzung die Sprachphilosophie nicht bedacht worden sei, die hinter der Wortwahl „Where The Wild Things Are“ stünde. Mit dem Begriff „Kerle“ hätte man das Geschehen sinnlos familiarisiert und verhäuslicht. Es müsse vielmehr heißen: „Wo die wilden Wesen wohnen“, die abgründige Verlassenheit des kleinen Max müsse abstrakt benannt werden. Im Interview sagte Sendak nun dazu: Nein, es ist ein Familienbuch, es geht um skurrile Verwandtschaft.

Alles Mögliche war dem schnell umstrittenen Klassiker seinerzeit zu- oder abgeschrieben worden. Seine witzige, seltsam düstere, aber warmherzige Botschaft, die technische Brillanz, die Farbgebung, die konzise Story. Angsterregend sei es, sagten die einen. Aber nein, alle Kinder möchten mal den starken Max markieren, sagten die anderen.

Im Amerika der sechziger Jahre war schon ein unartiges Kind nichts für ein Kinderbuch, zu schweigen von einer Mutter, die ihr Kind ohne Essen ins Bett schickt. Als der amerikanische Psychoanalytiker Bruno Bettelheim 1977 mit dem Bestseller „Kinder brauchen Märchen“ auftauchte, hatten die Wilden Kerle das schon längst bestätigt. Sendak selbst kümmerte und kümmert sich nicht um Pädagogik. Den kindlichen Wahrheitssinn will er ernst nehmen und das Gespür für Bosheit und Gewalt, frei nach Wilhelm Busch.

Einig war man sich damals nur: Ein Erwachsener soll bitte die Seiten umblättern, um die Ängste aufzufangen und den letzten Satz, den mit dem warmen Essen auf dem Nachttisch, mit der richtigen Pause und Zärtlichkeit vorzutragen. Nun können sie gemeinsam ins Kino gehen, die Eltern, die mit dem Sendak-Buch groß wurden, und ihr eigener Nachwuchs.

Die Geschichte von Max ist ein Entwicklungsroman. Der Held sucht das Abenteuer, erlebt Todesangst, aber auch Siegesgewissheit. Geläutert kehrt er in die bürgerliche Welt zurück. Man kann das Genre auch satirisch nutzen, wie Jonathan Swift in „Gullivers Reisen“ (1726). Darin gibt es den Besuch bei den Houynhymns, den weisen Pferden, die den Menschen unendlich überlegen sind. Hätte man also beim Urtitel – „Wo die wilden Pferde wohnen“ – bleiben sollen? Aber nein. Die Wilden Kerle sind eben auch nicht vollkommen. Es gibt keine Achse des Guten – außer der elterlichen Liebe.

Ab Donnerstag in 19 Berliner Kinos. OV: Babylon Kreuzberg, Cinestar Sony- Center.

Claudia Schmölders

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