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Kultur: Wo Richard Wagner für schlaflose Nächte sorgt

Sparsamkeit ist auch eine Kunst: Die Lettische Nationaloper in Riga lebt von der Begeisterungsfähigkeit der Künstler und ihres Publikums

Ausgerechnet Johann Wolfgang von Goethe hat sich gegenüber dem jungen livländischen Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz nicht von seiner besten Seite gezeigt. Dem gefährdeten Schriftsteller am Rande des Wahnsinns wies er in Weimar die Tür, schließlich starb Lenz in der Moskauer Gosse. So entbehrte es nicht einer gewissen Ironie, ausgerechnet mit Wolfgang Rihms Kammeroper „Jakob Lenz“ die Zehnjahresfeier des Rigaer Goethe-Instituts zu begehen. Institutspräsidentin Jutta Limbach sah jedoch gerade darin den Hinweis auf die lange Tradition des kulturellen Austauschs zwischen den Baltischen Staaten und Deutschland, „schließlich wissen auch wir Goethe-Anhänger, dass seine Entscheidungen nicht über jeden Zweifel erhaben sind.“

Als Lenz 1751 im livländischen Sesswegen geboren wurde, gab es zwar noch kein eigenständiges Lettland und in seiner Heimat ist er heute weitgehend vergessen, aber gerade diese Aufführung könnte Anteil an seiner Wiederentdeckung haben. Heimgekehrt, gar zur Ruhe gekommen ist Lenz indessen auch als Opernfigur nicht. Die deutsche Opernregisseurin Renate Ackermann zeigt ihn im Neuen Saal der Lettischen Nationaloper ruhelos und getrieben von seinen inneren Stimmen. Ein Birkenwäldchen begrenzt die Spielfläche, darüber eine Projektionsfläche für die Videos von Yvette Mattern, ansonsten nur wenige Requisiten. Andreas Reibenspies ist der hellsichtig Verrückte mit beeindruckender Intensität, der Dirigent Normunds Šne leitet die Rigaer Kammermusiker zu glutvollem Spiel, das sich auch auf die anderen Solisten, den Lettischen Radiochor und die herausragenden Knaben des Rigaer Domchors überträgt.

Ursprünglich hatte das imposante Opernhaus am Rande der Altstadt schwarze Säulen, einen roten Baukörper und vergoldete Skulpturen. Ein schwarz-rot-goldenes Theater im russischen Reich – so zeigten die deutschsprachigen Kaufleute 1863, wer das Sagen hatte. Mit der staatlichen Unabhängigkeit im Jahr 1918 wurde das Deutsche Theater umbenannt in Lettische Nationaloper und weiß gestrichen. Während die Immobilie gepflegt wurde, wollte man von den musikalischen Traditionen in Riga lange nichts wissen. Die Namen Bruno Walter, Clemens Krauss oder Hermann Abendroth waren weitgehend vergessen. Erst in den späten Neunzigerjahren, nach der abermaligen Unabhängigkeit Lettlands, erwachte das Interesse auch an dieser Geschichte erneut.

Während im Neuen Saal zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg eine zeitgenössische deutsche Oper Premiere hat, probt im prunkvollen Großen Saal der neue Chefdirigent Andris Nelsons mit dem Orchester für die Wiederaufnahme von Puccinis „La Bohème“. Wer sich in den abgedunkelten Zuschauerraum schleicht, kann den 26-jährigen Nelsons bei der Arbeit beobachten. Mit elegant-energischen Bewegungen treibt er das Orchester zu ganz erstaunlichem Farbenreichtum an. Er heizt die Musik erotisch auf, kostet die Rubati aus, ohne den Fluss anzuhalten. In jeder Phrase, in jedem Ton scheint bereits das ganze Drama zu liegen, auch wenn auf dieser Probe kein Sänger weit und breit zu sehen ist.

Gerade das italienische Repertoire dirigiert der Meisterschüler von Mariss Jansons mit faszinierender Verve und überwältigender Dramatik. Doch auch deutsche Opern liegen ihm am Herzen, seit seine Eltern ihn zum ersten Mal in die Rigaer Oper mitnahmen. Damals gab es „Tannhäuser“, und der fünfjährige Junge ging weinend nach Hause, hatte eine schlaflose Nacht wegen Wagner und wünschte nichts sehnlicher als Dirigent zu werden. Zunächst studierte er jedoch Trompete und spielte im Opernorchester seiner Heimatstadt.

Als sein Dirigiertalent auffiel, förderte der Rigaer Intendant Andrejs Žagars ihn nach Kräften. Eine kluge Investition, die bereits jetzt Dividende erbringt. Als der Chefdirigentenposten neu besetzt werden musste, zögerte er nicht, Nelsons den Posten anzubieten. Er setzte auf Talent und Ehrgeiz, statt einem vermeintlich großen Namen noch eine letzte Stelle vor dem Ruhestand zu bieten. Dafür wurde Žagars heftig kritisiert, doch er hielt an dem jungen Talent fest. Schließlich gibt es nicht den leisesten Zweifel, dass Andris Nelsons zu den begabtesten Nachwuchsdirigenten unserer Zeit gehört und dass die Lettische Nationaloper nicht seine berufliche Endstation ist. Übrigens steht er, auch was das Alter betrifft, in bester Rigaer Tradition: Als Richard Wagner das Theater übernahm, war er 24 Jahre alt, Bruno Walter kam bereits mit 21 auf diesen Posten.

Ein Orchestermusiker der Lettischen Nationaloper verdient umgerechnet etwa 450 Euro im Monat. Weil die Musiker sehr gut sind, erhalten sie jedoch auch lukrative Angebote aus dem Westen. Schon jetzt arbeiten viele von ihnen in Skandinavien.

Zwar ist das Budget der Rigaer Oper in den vergangenen Jahren um das Dreifache gestiegen, dennoch liegt der Jahresetat bei bescheidenen 4,25 Millionen Euro. Knapp 200 Opern- und Ballettaufführungen pro Jahr können damit finanziert werden, Gehaltserhöhungen bleiben jedoch utopisch. „Wir müssen die Musiker mit unserem Enthusiasmus anstecken“, betont Chefdirigent Nelsons, „denn das Geld für eine angemessene Bezahlung haben wir einfach nicht.“ Intendant Žagars hat in seiner siebenjährigen Amtszeit bereits fünf Kulturminister kommen und gehen gesehen, das Verhältnis zur Kulturverwaltung blieb stets prekär. Jetzt sieht er die Zeit für neue Auseinandersetzungen gekommen, „denn spätestens wenn Lettland in die EU eintritt, laufen uns alle guten Musiker davon. Die Gehälter müssen einfach steigen.“

Der Erfolg beim Publikum gibt dem Intendanten Andrejs Žagars Recht. Es ist ihm gelungen, die aufsteigenden Leistungsträger der jungen Demokratie in sein Opernhaus zu locken, und zwar nicht nur, weil sie im meergrün-goldenen Zuschauerraum selber gesehen werden wollen. Die Auslastung stieg von 65 dauerhaft auf 85 Prozent. Alljährlich im Juni bietet das Rigaer Opernfestival einen komprimierten Rückblick auf die vergangene Spielzeit, im kommenden Juni wird auch „Jakob Lenz“ wieder zu sehen sein.

In letzter Zeit klingt es nicht nur von der Bühne deutsch, auch im Zuschauerraum wird wieder Deutsch gesprochen, diesmal von Touristen, die das Baltikum durchreisen. Oft befinden sie sich auf den Spuren ihrer Vorfahren. Diese begründeten einst die Operntradition in Riga.

Informationen unter: www.opera.lv

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