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Kultur: Wo war Karin letzte Nacht?

„Sehnsucht nach Schüssen“: Performance von Hangover Ltd. im Berliner Prater

Karin schläft, im Dornröschenschlaf ausgestreckt auf einem Bett. Klaviermusik und langsame Kameraschwenks machen die Szene surreal. Karin wird geküsst von Vera, wird gekitzelt und gestreichelt – und wacht auf. Das Märchen ist vorbei. Karin keucht: „Mach das Fenster auf.“ Sie stürzt aus dem Zimmer. „Ich bekomme keine Luft.“ Die Flucht nach draußen. Ein Affront. Schnitt.

Jetzt ist die Eingangstür des Praters der Berliner Volksbühne auf zwei Videoleinwänden zu sehen. Probenzeit für ein Theaterstück. Das Publikum sitzt frei im Raum verteilt auf Sitzkissen, der Boden ist mit Sand bedeckt, über den Köpfen ein rotes Zeltdach. Den Raum hat Bert Neumann für René Polleschs „Telefavela“ so gebaut. Für die Video-Theater-Performance „Sehnsucht nach Schüssen“ des Filmkollektivs Hangover Ltd. von Christine Groß, Sophie Huber, Ute Schall und Tatjana Turanskyj ist der Raum ein Kinosaal. Eine Bühne gibt es nicht. Das Geschehen findet auf den Videoleinwänden statt, mal synchron auf beiden Leinwänden, mal in zwei Handlungstränge gesplittet.

Der oft strapazierte Einsatz von Video, zig-Male von Frank Castorf durchexerziert, wird hier zur einzigen Realität. Theater findet nicht mehr als Theater statt, der Film ist nicht Stilbruch, sondern eigentliche Bühne. Das Leben ist ein Film, im Film wird ein Theaterstück geprobt. Oft genug ist das Leben ein Theater und austauschbar damit. Im Konzept von Hangover Ltd. überlagern sich verschiedene Ebenen, werden ununterscheidbar und erzählen dennoch das Gleiche. Es funktioniert hervorragend. Das Stück, das im Film geprobt wird, handelt von den großen Themen des Lebens: Liebe, Sex und Sehnsucht. Die Kamera ist dabei. In der Video-Wirklichkeit leben die Schauspieler ein Leben, in dem es um Liebe, Sex und Sehnsucht geht. Und Eifersucht und Misstrauen.

Vera (Christine Groß) liebt Karin, ob Karin (Sophie Huber) Vera liebt? Karin weiß es wohl selbst nicht. Jedes Mal erscheint sie nicht zur Probe, wenn sie den Abend zuvor mit Vera verbracht hat. Arbeit und Privates sollten nichts miteinander zu tun haben, schimpft Veras Kollege (Thorsten Heidel). Doch die Beziehungsprobleme im Theaterstück und im Film-Leben sind die gleichen. Vor allem für Vera geht alles durcheinander. Wo war Karin letzte Nacht, will Vera wissen und nicht proben. Karin spricht dennoch ihren Monolog: Sie habe Sex gehabt. Schön sei es gewesen. Später will Vera in Karins Wohnung eine Szene proben, in der sie ihre Liebe gesteht. In der Filmwirklichkeit schafft sie es nicht. Sie braucht das Theater.

Das Geschehen wird teilweise live gespielt, im Prater-Foyer oder in den Büroräumen im ersten Stock, und live übertragen. Oft vermischen sich Geräusche des Spiels mit Geräuschen der Übertragung. Andere Teile des Films sind vorproduziert. Szenen in Karins Wohnung etwa oder Veras Sauftour, als sie den ganzen Hickhack mit Karin nicht mehr ertragen kann am Tag der Premiere. Erst im Moment der Aufführung fügen sich vorproduzierte Teile und Live-Aufnahmen zu einer linearen Geschichte, butterweich und humorvoll. Und doch merkt der Zuschauer immer, wie viele Medien das Spiel filtern und ungreifbar machen.

Besoffen kommt Vera zur Premiere in den Prater. Sie wird mühevoll aufgemöbelt und stürmt mit Karin Richtung Bühne. Applaus vom Band wird eingespielt. Der Vorhang hinter dem Publikum öffnet sich, die Schauspieler sind real, außerhalb des Films, zu sehen und verneigen sich. Ende. Echter Applaus.

Karl Hafner

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