zum Hauptinhalt

Kultur: Wonnen der Wehmut

Peter von Becker über den Erfolg der Berliner „Melancholie“

Wer melancholisch ist, den drängt es in seiner Wehmut wohl eher zur Vereinzelung. Er sucht den Rausch der Stille, vielleicht auch den stillen Rausch, die Kontemplation. Die Empfindung des Melancholikers zu pflegen, zu heilen oder zu teilen, taugt allenfalls das Zwiegespräch, nicht eine Party oder Podiumsdiskussion. Nach Börsenstürzen oder Kriegsausbrüchen mag es kollektive Ängste, soziale Depressionen geben. Aber die leicht schwermütige Seelenverschattung meint doch immer etwas vornehm Singuläres – niemand spricht von kollektiver Melancholie. Umso mehr ist es eine Pointe, wenn die Verheißung der Melancholie zum Massenereignis wird.

Jedenfalls war die am Sonntag in der Berliner Neuen Nationalgalerie zu Ende gegangene „Melancholie“-Ausstellung ein Magnet. Wie 2004 bei der MoMASchau haben sich seit dem 17. Februar auch an den nasskältesten Tagen die Besucherschlangen ums große Glashaus gewunden. Über eine viertel Million Menschen sind in knapp drei Monaten herbeigepilgert, um „Genie und Wahnsinn in der Kunst“ zu erleben. Der Untertitel klingt zwar weniger still und hat mit „Melancholie“ so viel zu tun, wie halt fast alle Kunst irgendwie auch mit Genie und Wahnsinn zu schaffen hat. Aber der Berliner Publikumserfolg, der jenen im Pariser Centre Pompidou, wo die Ausstellung zuerst zu sehen war, eindrucksvoll wiederholt, zeigt doch: Die gerne beklagte kulturelle Schwindsucht der Alteuropäer ist nicht alles. Auch die Spaßvogelgrippe oder der Verweis auf Ausstellungen als „Event-Kultur“ erklären nicht alles. Schon gar nicht bei einem so komplexen wie komplizierten Thema. Selbst im Rumor der Massengesellschaft wächst die Sehnsucht nach feineren Tönen, strengeren Bildern, tiefergreifenden Erfahrungen.

Zu jedem Trend existiert heute ohnehin ein Gegentrend. Gerade die modernitätsversessensten Japaner und Chinesen rennen in europäische Antikenausstellungen und verehren Mozart und Schubert. Und ehe wir angesichts des absehbaren Booms der soeben eröffneten Caspar- David-Friedrich-Ausstellung in Essen und des in der Nationalgalerie bezeugten Interesses an griechischen Grabstelen, Dürer-Stichen und Baudelaire’schen Selbstporträts wieder die Rückkehr des Bildungsbürgers ausrufen, ein Blick auf die Berliner Zahlen: Nach ersten Zuschauerbefragungen kamen über die Hälfte der „Melancholie“-Besucher aus der Hauptstadt und ihrem Umland; knapp über 30 Prozent sind aus dem Bundesgebiet nach Berlin gereist, oft eigens für die Ausstellung. Nur etwa 10 Prozent waren Gäste aus dem Ausland, was sich wohl damit erklärt, dass die Hauptsaison für Kulturtouristen erst Ostern begann. Fast 60 Prozent der befragten Besucher waren Akademiker und über 60 Prozent: Frauen. Das deckt sich mit anderen Beobachtungen, Frauen lesen auch mehr Bücher und gelten überhaupt als kulturinteressierter.

Erstaunlich, dass der 45 Euro teure Katalog nachgedruckt und 12 000-mal verkauft wurde. Und: Die Mehrheit der Besucher war zwischen 20 und 30 sowie über 60 Jahre alt. Dies lässt vermuten, dass ausgerechnet die Hauptgruppe der Berufstätigen und die so genannten Entscheidungsträger der Gesellschaft wenig Zeit oder Aufmerksamkeit haben für die Wonnen der wehmütigen Nachdenklichkeit. Für einzelgängerische Fantasien. Es geht ja längst nicht mehr nur um die schwarze, bittere Galle. Victor Hugo hat es schon vor 150 Jahren erkannt: „Melancholie ist das Vergnügen, traurig zu sein.“

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false