zum Hauptinhalt

Kultur: Wühlen in Europas Wunden

Europa "fickt", schreibt Michel Houllebecq, genauer und schlimmer noch: Okzident "fickt" Orient. Das findet der Orient nicht gut, deswegen schlägt er terroristisch zurück.

Europa "fickt", schreibt Michel Houllebecq, genauer und schlimmer noch: Okzident "fickt" Orient. Das findet der Orient nicht gut, deswegen schlägt er terroristisch zurück. Diese narrative und politische Grund-Konstellation des neuen Houllebecq-Buches hatte im letzten Sommer für große Aufregung in Frankreich gesorgt. Nach dem 11. September hat sich die Empörung allerdings etwas gelegt. Nun liegt das Buch auf Deutsch vor und wird wohl die ja noch empfindlicheren deutschen Gemüter erregen. Diese sind aber, wie ich in vielen Gesprächen festgestellt habe, schon von vornherein erregt. Kaum ein Autor polarisiert dermaßen wie Houellebecq. Viele Leute fangen sofort an zu schreien, wenn sie den Namen hören (kleiner Tipp: Sprechen Sie den Namen Wellbeck aus, das ist am wenigsten falsch) - gerade auch die guten Leute, die literarisch hochgebildeten, die soeben Esterhazys "Harmonia caelestis" mit Entzücken lesen, meine Freunde, vor allem meine Freundinnen. Houellebecq scheint etwas zu treffen, was sie aufschreien lässt: touché. In der Tat, die Bücher Michel Houellebecqs sind nicht schön, sie sind kunstlos, mehr wie Comics, nahe am politischen Journalismus, politisch nicht besonders korrekt, irgendwie Trash, wahrscheinlich sind sie auch Bücher nur für Männer. Dennoch: Sie sind - endlich mal wieder - wichtige Bücher aus Frankreich. Und sie schmerzen, weil sie ins Schwarze treffen; weil sie auf eine geradezu infame Art in den schwärenden Wunden Europas wühlen, in unseren Wunden, "Plattform" noch mehr als seine Vorgänger.

Auch das dritte Buch von Michel Houellebecq spielt nämlich in der global ausgeweiteten Kampfzone des Liberalismus, in der Zone der befreiten Sexualität, und damit in der tödlichsten Zone der neuen Klassenkämpfe: Im ersten Roman, "Ausweitung der Kampfzone", hatte Houellebecq parallel zur immer größer werdenden Spanne zwischen Arm und Reich in unserer schönen neoliberalen Welt ein Auseinanderdriften zwischen "Fickern" und "Nichtfickern" ausgemacht: die einen tun es die ganze Zeit, die anderen immer weniger oder gar nicht (Rousseau lässt grüßen: "Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen").

Die Befreiung des Sexus führt die sexuelle Unterklasse stracks in den Selbstmord. Eros und Thanatos gehen eine bittere Ehe ein. Statt Égalité und Fraternité herrscht die Amertume, die Bitterkeit im Land der sexuellen Liberté. Das zweite Buch "Elementarteilchen" erzählt von einem ungleichen Brüderpaar (von wegen Fraternité), Kinder einer sich sexuell selbstverwirklichenden Achtundsechzigerin, der eine ein Ficker und der andere ein Nichtficker, beide aber gleichermaßen trostlos auf der aussichtslosen Suche nach Liebe, Glück (oder so etwas). Der nichtfickende Wissenschaftler ermöglicht durch seine genialen biologischen Forschungen das Ende der sexuellen Reproduktion der Menschheit. Dieses wird allerdings nicht wie von Herrn Djerassi als fröhliche Befreiung, sondern als triste Apokalypse der Menschheit inszeniert, europäisch eben, nicht amerikanisch.

Jetzt besichtigt Houellebecq einen anderen, besonders heißen Frontabschnitt der Kampfzone: den Sextourismus und die sexuellen Beziehungen zwischen Europa und dem Orient, sozusagen den Versuch der Ausweitung der westlichen Fickzone. Der führt unweigerlich in eine tödliche Konfrontation zwischen Sexsuchern und Gottsuchern. Zweimal "fickt" der Okzident den Orient, zweimal schlägt der Orient tödlich zurück. Sowohl der Vater als auch die Geliebte des Protagonisten werden von islamistischen Betern getötet. Der Vater hat eine junge maghrebinische Geliebte, deren Brüder den "alten Ficker" (als solcher wird er auf der ersten Seite des Buches eingeführt) erschlagen. Die erfolgreiche Managerin eines Ferienswingerclubs in Thailand (eine zündende Geschäftsidee des Protagonisten Michel) wird bei einem Anschlag auf den Club von islamistischen Terroristen erschossen.

Auch im neuen Buch endet die sexuelle Freiheit des Westens in Tod und Trostlosigkeit. Die Ausweitung der Sexzone misslingt, sie ist die Plattform, von der aus man sich nur noch in den Tod stürzen kann. Dennoch ist etwas neu auf der Plattform, nämlich dass Houellebecq dem sexuellen Liberalismus, dem ausführlich und detailreich dargestellten Genitalgebrauch, jetzt eine Positivität gibt, die es in den ersten Büchern nicht hatte. Dies hat natürlich die Wut des juste milieu gegen Houellebecq besonders gesteigert. Die befreite Sexualität ist zwar immer noch das zweite Kapital, das wegen seiner ungleichen Verteilung die menschliche Ungleichheit befördert, aber sie ist jetzt gleichzeitig auch der letzte Ort, an dem so etwas wie Gefühle entstehen, wo sogar so etwas wie Liebe keimen kann.

Aus der sexuellen Beziehung zwischen dem Protagonisten und der Tourismus-Managerin wächst nämlich eine Vertrautheit, aufgrund deren der Mann und die Frau ein dauerhaftes Zusammenleben in Aussicht nehmen. Aber als konsequenter und scharfer Gesellschaftsanalytiker sieht Houellebecq natürlich, dass das nicht möglich ist. In der völlig kommerzialisierten und von moralisch empörten Betern umstellten Kampfzone der befreiten Sexualität kann Liebe nicht gelebt werden. In der Kampfzone gibt es keine Sanktuarien. Mit dem Fick-Club zerfetzt der Terror auch den altmodischen Ort der Sehnsucht, den unmöglichen romantischen Fluchtpunkt aller Bücher von Houellebecq.

Im Warten auf die Selbstauslöschung bleibt dem Protagonisten am Ende einzig so etwas wie Solidarität mit denen, die wir guten Bürger besonders verabscheuen, mit alten deutschen Sextouristen: "Die deutschen Senioren setzen sich, legen ihre dicken Hände auf die Schenkel ihrer jungen Gefährtinnen. Mehr als jedes andere Volk kennen sie die Sorge und die Scham, fühlen sie die Sehnsucht nach zartem Fleisch, nach zarter und irgendwie erfrischender Haut. Mehr als jedes andere Volk kennen sie die Sehnsucht nach der eigenen Auslöschung... ihre Gesellschaft ist beruhigend und traurig." Schon allein diese Passage wird hierzulande alle aufheulen lassen, die - wie ich - meinen, dass Sextourismus das Letzte ist. Dennoch: Wenn wir einmal einen Moment unsere moralische Entrüstung vergessen, müssen wir doch zugeben, dass der unmoralische Abschiedsblick des traurigen Fickers eine humane Wahrheit entdeckt, der man sich schwer versagen kann.

Die Protagonisten der Houellebecqschen Bücher - auch Michel, das Ich aus "Plattform" - sind Brüder Meursaults, des "Fremden" von Camus. Sie sind wie dieser emotional reduziert und kaum mit einem Über-Ich ausgestattet, dabei aber - oder deswegen? - durchaus freundlich und friedlich. Die Abwesenheit der guten alten bürgerlichen Psyche macht sie uns so fremd. Die Houellebecqschen Fremden haben allerdings eine viel bessere Ausbildung als der "Étranger" (der ein kleiner Angestellter war): Sie sind Absolventen bester Schulen, sie sind intellektuell Spitze, haben gute Jobs, sie funktionieren. Sie interessieren sich aber eigentlich nur für Sex und sind insofern auch Brüder (im Unterleib) der freundlichen Frau Millet, die dem serienmäßigen, völlig emotionslosen, man könnte sagen industriellen Ficken gerade ein zwar Aufsehen erregendes, aber langweiliges Buch gewidmet hat (Catherine Millet: "Das sexuelle Leben der Catherine M."), immer nur das Eine ist ein bisschen repetitiv. Langweilig ist Houellebecqs Buch dagegen gerade nicht. Es blickt ja auch nicht nur auf Genitalien wie Frau Millet (Frankreich scheint seine kulturelle Mission derzeit in der künstlerischen Freiliegung des erigierten Pimmels zu sehen, im Film zuletzt in "Intimacy" und "Baise-moi"), sondern auf die uns umgebende soziale, politische und kulturelle Wüste aus der Perspektive dieses freundlichen, intelligenten, unmoralischen, lauwarmen Ichs des neuen Fremden.

Gerade weil sich dieses Ich (scheinbar) nicht moralisch empört, gewinnt der Blick eine Schärfe, die ihresgleichen sucht. Außer der sexuellen Kampfzone besichtigt Michel das vom Tourismus heimgesuchte Thailand, Kuba, die Chefetage des Tourismusgeschäfts, Gruppenreisen, Büros, Fitness-Studios, SM-Clubs, den staatlich geförderten Kunstbetrieb, die bretonische Bauernfrage, idiotische Fernsehsendungen, globale Bestseller (Grisham), bürgerliche Ehen, kurz einen gigantischen Schrottplatz, der nicht gerade zum Weiterleben ermutigt. Plattform.

"Mein Vater ist vor einem Jahr gestorben". Die intertextuelle Beziehung zu Camus ist schon mit diesem ersten Satz an klar: Mit "Heute ist Mama gestorben" beginnt "Der Fremde" von Camus. "Der Fremde" endet im Warten auf die Hinrichtung, "Plattform" endet in der Erwartung der Selbst-Hinrichtung. Die zweite große französische Tradition, in die sich die Romane Houellebecqs einschreiben, ist die der philosophischen Geschichte des 18. Jahrhunderts.

Neben der Zeitkritik traktierten die contes philosophiques Prinzipielles. Wie Voltaires "Candide" den Leibnizschen Optimismus (und seine Unmöglichkeit), so repräsentiert der Fremde Michel die sexuelle Freiheit (und ihre Unmöglichkeit). Wie Voltaire ist auch Houellebecq kein wirklich großer Erzähler. Aber mit Houellebecq hat Frankreich endlich wieder etwas Wichtiges und etwas sehr Französisches beizutragen zum aktuellen Roman. Jahrzehntelang schrieben alle guten Schriftsteller Frankreichs hochartifizielle Werke, die außer Literaturprofessoren niemand so recht lesen mochte. Es gab nichts, was den großen realistischen Erzählern Amerikas gleichkam, und auch mit den gelehrten Romanciers Italiens und dem Lesevergnügen, das sie uns bereiteten, konnte sich nichts recht vergleichen. Ein Vergnügen ist die Lektüre Houellebecqs nicht, aber aufregend ist sie. Wie bei Camus und in den alten philosophischen Geschichten erfahren wir Verstörendes über uns und unsere Welt.

Zwei Fragen zum Schluss: Wie reaktionär ist das Buch? Nun: so reaktionär wie die "Dialektik der Aufklärung", die durch die Analyse der durch die Aufklärung verursachten historischen Katastrophen auch nicht für eine Rückkehr ins Mittelalter plädierte. Und wieso heißt es "Plattform"? Vermutlich, weil es der erhöhte Ort ist, von dem aus sich Selbstmörder in die Tiefe stürzen. Denn die wunderbaren offenen plateformes der alten Pariser Busse, auf denen man an der frischen Luft durch die Stadt fahren konnte, gibt es längst nicht mehr.

Jürgen Trabant

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false