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Kultur: Wurstküche

Schlingensief und die Wiedervereinigung

Die deutsche Einheit gilt als gelungen, sie ist ein Fall für Sonntagsreden. Seit der Maueröffnung am 9. November 1989 haben Millionen Menschen die ehemalige DDR in Richtung Westen verlassen. Was gerne verschwiegen wird: Vier Prozent von ihnen kamen niemals an. Sie wurden zur Wurst.

Christoph Schlingensiefs Film „Das Deutsche Kettensägenmassaker“ beginnt mit Bildern von der Einheitsfeier am 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag. Tausende jubeln, Feuerwerksraketen schießen durch die Nacht. Richard von Weizsäcker hält eine Rede und flüstert am Ende seinem Nachbarn zu: „Jetzt müsste die Hymne kommen.“ Dann kommt die Hymne. Genscher brummt, Kohl blinzelt, seine Frau Hannelore lächelt. Alle singen: „Einigkeit und Recht und Freiheit.“ Noch größerer Jubel, noch mehr Raketen.

Dann Schnitt. Eine Trabi-Fahrt von Leipzig, der Heldenstadt, in den Westen, durch einen Grenzübergang, wo Stasi-Gespenster am Lagerfeuer Wache halten und Irm Hermann in NVA-Uniform die Reisenden schikaniert: „Her-un-ter- las-sen die Schei-be!“ Endstation ist das „Café Porsche“ an einer Autobahnabfahrt irgendwo in der BRD-Peripherie, eine heruntergekommene Herberge, die an das Bates-Motel in Hitchcocks Thriller „Psycho“ erinnert. Wer hier absteigt, der ist verloren. „Herzlich Willkommen in der Freiheit“, wünscht ein Schild. Aber willkommen sind die Ossis nur als Lebendfleisch. Ein Schlag auf den Kopf, anschließend geht es zur Weiterverarbeitung in den Wurstkeller. Herr der Töpfe ist Alfred Edel, der seine Gehilfen herrisch anfeuert: „Schlachten, schlachten!“

Hier wächst nicht zusammen, was zusammengehört. Stattdessen wird das, was nicht passt, passend gemacht. Mit Beil, Kettensäge, Wurstmühle. Die Ostler betteln und barmen: „Wir kommen von drieben, wir kommen in friedlicher Absicht.“ Einer taumelt verletzt durch die Verliese und schreit nach einem „Vopo“. Aber die Wessis kennen keine Gnade. Sie schlachten und zerstückeln, wo es doch um die Einheit gehen müsste. Blutende, nicht blühende Landschaften. Hinter einer verschlossenen Tür sitzt der Mann, der das alles geplant hat. Er spricht nur mit Edel, seinem Sohn. Es könnte Dr. Kohl sein, der Vater der Einheit. Wahrscheinlich ist er längst tot, eine mumifizierte Leiche wie Anthony Perkins Mutter in „Psycho“.

Schlingensiefs „Kettensägenmassaker“, 1990 innerhalb von wenigen Wochen geschrieben und abgedreht, war das Gegengift zum Getöse des Großereignisses. Wer den Film (erschienen beim DVD-Label Filmgalerie 451) nach zwanzig Jahren wiedersieht, wird immer noch mitgerissen von der Wucht des Klamauks. Ein Splattermärchen zur Wende, mit Hänsel und Gretel aus Leipzig, die von Wohlstandswessis gefressen werden. Die Einheit war ein Wunder, aber auch eine Wunde. „Wir sind ein Volk“ wurde skandiert, und in Solingen, Mölln, Rostock brannten Häuser. „Ich fand’s eklig“, sagte Schlingensief, „das ganze Geheuchel der Heuchelmaschinen“. Ihm hat die Einheit nicht geschadet. Schlingensief stieg an der Ostberliner Volksbühne zum Theaterstar auf. Heute hat sein letztes Bühnenprojekt Premiere, ohne ihn: die Oper „Metanoia“ am wieder eröffneten Schillertheater. Christian Schröder

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