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Yann Martels Roman "Schiffbruch mit Tiger": Die Zähmung der Götter

In seinem preisgekrönten Roman „Schiffbruch mit Tiger“ wettet Yann Martel auf den Glauben in einer entzauberten Welt

Für einen Roman Werbung zu machen mit dem Satz: „Eine Geschichte, die Sie an Gott glauben lässt“, ist eine Provokation. Der Thrill von Sex, Gewalt oder schwarzem Nihilismus holt anscheinend niemanden mehr hinter dem Ofen hervor, wohl aber die Wette auf die Glauben spendende Kraft eines Buches. Vorausgesetzt, es wird einem nicht von den Zeugen Jehovas angeboten, sondern erscheint wie Yann Martels „Schiffbruch mit Tiger" in einem seriösen Verlag. Der Klappentext verspricht nicht weniger als die knappe Rahmengeschichte des Romans: Ein erfolgloser Schriftsteller, Kanadier wie Yann Martel, unterwegs als Rucksacktourist in Südindien, begegnet einem alten Mann, der ihm eine „wahre“ Geschichte verspricht, eine „Geschichte, die Ihnen den Glauben an Gott geben wird.“ Der Leser teilt zunächst die Skepsis des Schriftstellers. Doch der Schriftsteller hört erst einmal zu, und der Leser liest erst einmal weiter.

Martel riskiert mit seinem Roman, für den er im letzten Herbst den Booker-Preis erhielt, nicht nur die Lächerlichkeit, seine Wette mit dem Leser auf den Glauben zu verlieren. Er riskiert auch, dass sein Text hinter diesem Anspruch verschwindet, dass der so unverfroren aufs Ganze zielende Stoff sein Schreiben zudeckt. Aber beide Risiken übersteht das Buch. Erstens, weil Martels zwar nicht neuartige, aber liebenswerte Version des Gottesbeweises aus der literarischen Überlieferung „argumentiert“, innerhalb der Grenzen der Literatur bleibt, diese allerdings so weit ausdehnt, dass sie allumfassend werden. Zweitens, weil er mit seiner verschmitzten, manchmal schnoddrigen Sprache, die mit einem charmanten Hauch von creative writing und literarischem Rucksacktourismus versehen ist, ein Gleichgewicht herstellen kann zwischen der hybriden Wette auf den Glauben und einer auch ohne Metaphysik spannend zu lesenden Geschichte.

Martel erzählt das Abenteuer von Pi Patel, einem südindischen Jungen, der in den 70er Jahren als Sohn eines Zoodirektors aufwächst. Pi begeistert sich, anders als seine Eltern, für Religion. Er besucht nicht nur den Hindutempel, sondern auch eine katholische Kirche und eine Moschee. Urkomisch die Szene, als Pi mit seinen Eltern beim Sonntagsspaziergang allen drei Priestern begegnet und diese sich um ihren Musterschüler und ihre Glaubenswahrheiten zu streiten beginnen. Pi besteht auf der Ausübung aller drei Religionen. Sein synkretistischer Glaube wird durch seine ausführlichen zoologischen Studien bestätigt: Wie Pi und auch sein Vater meinen, leben die Tiere viel lieber und besser in der „Freiheit des Gefängnisses“ eines guten Zoos, als im „Gefängnis der Freiheit“, im Dschungel. Sein Vater hat ihn zwar vor der Gefährlichkeit der Zootiere gewarnt. Aber Pi erfährt im Zoo das Gesetz der Koexistenz in der Natur, das letztlich mächtiger ist als das Recht des Stärkeren. Was er an den Tieren beobachtet, vermisst er bei den Religionen, die er, wie Gandhi, alle für wahr hält: Er muss vor den Priestern seine dreifache Gläubigkeit verstecken, weil sie von Pi fordern, sich für einen Glauben zu entscheiden.

Familie Patel beschließt, nach Kanada auszuwandern und schifft sich mit den Tieren auf einem japanischen Frachter ein. Das Schiff sinkt, und Pi ist der einzige menschliche Überlebende. Auf dem Rettungsboot befinden sich außer Pi noch eine Hyäne, ein Zebra, ein Orang-Utan und ein großer bengalischer Tiger. Pi muss mit ansehen, wie zunächst die Hyäne das Zebra und den Orang-Utan, dann der Tiger die Hyäne verspeist. Pi wäre der nächste, aber ihm gelingt es, den Tiger zu zähmen... Pi bleibt 227 Tage auf See und überlebt.

Der fingierte Autor des Buches, der Rucksacktourist, lässt Pi in der Ich-Form sprechen, denn er hat den alten Pi in Toronto besucht und interviewt, wo dieser nach seiner Rettung Zoologie und Religionswissenschaft studiert und eine Familie gegründet hat. Das Buch schließt mit dem Tonbandprotokoll eines Gesprächs der japanischen Reeder des gesunkenen Frachters mit Pi nach seiner Landung in Amerika.

Sie glauben ihm seine Geschichte nicht und zwingen Pi, eine andere, grausigere Geschichte zu erzählen, in der die Tiere durch Menschen ersetzt sind, die einander umbringen und Menschenfleisch essen. Was die bessere, nicht die wahrere Geschichte sei, fragt Pi die Japaner. Die mit den Tieren sei die bessere, gestehen sie. „Und genauso ist es mit Gott“, sagt Pi und fängt an zu weinen.

Yann Martels Roman ist eine raffinierte Allegorie auf die Unversöhnlichkeit der Weltreligionen und die bei aller Grausamkeit tröstliche Grundordnung der Natur. Wer mag, soll das als New-Age-Kitsch abtun. Aber wer sich von dem unprätentiösen Erzählton Martels gefangen nehmen lässt, wird ihm gerne die „bessere Geschichte“ abnehmen. Die bessere Geschichte ist die Geschichte mit Gott und den Göttern, die so vielfältig sind wie die Tiere in einem Zoo, und doch nur die eine Utopie herbeierzählen wollen – die friedliche Koexistenz von Gott, Welt und Menschen.

Nach Martel ist die Zähmung der Götter die Aufgabe der literarischen Religions-Dompteure. Sein Roman erzählt viele Details aus Religion und Zoologie. Das vielleicht wichtigste deutet er nur an: Das japanische Katastrophen-Schiff heißt „Tsimtsum“. Das spielt auf eine kabbalistische Theologie an, über die Pi Patel seine Examensarbeit geschrieben hat. Demnach hat Gott sich bei der Schöpfung in sich selbst zurückgezogen – diesen Vorgang nennen die Kabbalisten „Zimzum“. In dem Raum, der frei wurde, entstand die Welt. Nur einige göttliche Funken sind dabei in den Kosmos gefallen. Es ist nun an den Menschen, diese Funken aufzuheben. Diese Tätigkeit heißt „Tikkun“.

Wer nach der Lektüre von „Schiffbruch mit Tiger“ nach wie vor nicht an Gott glauben will, muss wenigstens zweierlei zugestehen: erstens, dass Yann Martel – selbst bei verlorener Wette – einige der göttlichen Funken aufgehoben hat. Und: Er gehört zu denen, die die besseren Geschichten erzählen.

Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003, 382 S., 19,90 €.

Marius Meller

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