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Kultur: Yenseits von Eden

Hören Japaner anders Klassik? Mit dem Rundfunkchor und den Berliner Philharmonikern in Tokio

„Wenn jetzt ein Erdbeben kommt, ist die Musikelite Europas mit einem Schlag ausgelöscht.“ Jan Willem Loot, der Intendant des Amsterdamer Concertgebouw, muss dann doch lachen über die pathetischen Worte, die er da gelassen im Musikerfoyer der „NHK Symphony Hall“ ausspricht. Völlig aus der Luft gegriffen sind sie allerdings nicht – schließlich treffen in diesen Tagen in Tokio die drei besten Orchester aus old europe aufeinander: Die Berliner Philharmoniker, die Wiener Philharmoniker und das Concertgebouw Orkest sind im November parallel auf Japan-Tournee. Allem Wehklagen über die schwächelnde Wirtschaft der asiatischen Tigerstaaten zum Trotz geht das immer noch: Die Japaner holen sich die Crème der Klassik-Interpreten ins Land – und zahlen dafür fast jeden Preis. Tickets für Beethovens „Fidelio“ mit den Berliner Philharmonikern gibt es ab 100 Euro, für die teuersten der 2400 Plätze in der Bunka Kaikan Hall sind 59000 Yen zu berappen, umgerechnet 444 Euro.

Und das Meeting der Weltklasse-Trias aus Berlin, Wien und Amsterdam ist nur die Spitze des Eisbergs: Allein in der Suntory Hall, dem attraktivsten der 35 (!) Tokioter Konzertsäle, sind in diesem Monat außerdem noch Charles Dutoit, Gerd Albrecht, Wolfgang Sawallisch, Vladimir Fedosseyev, Paavo Järvi und Fabio Luisi zu erleben, Alessandra Marc, Mischa Maisky, Thomas Zehetmair, Roger Norrington sowie Yakov Kreizberg.

Japaner lieben westliche Markenprodukte. In der eleganten Omotesando-Einkaufsstraße haben sich Prada, Escada und Gucci Shopping-Paläste gebaut, größer und schicker als in Paris oder Mailand. Während in Hongkong an jeder Ecke falsche Vuitton-Koffer und copy watches angeboten werden, gibt es in Tokio nirgendwo billige Imitate der Nobelmarken. Darum zieht Hongkong die Touristenmassen an – Tokio dagegen die Anbieter europäischer Hochkultur. Und weil die Berliner Philharmoniker im Bereich der Klassik nun einmal der Markenartikel schlechthin sind – traditionsreich, prestigeträchtig und mit hohem Wiedererkennungswert – könnten sie hier ständig vor ausverkauften Häusern auftreten. Während die japanischen Konzertagenturen von ihren Gästen normalerweise vor allem Beethoven wünschen, dürfen es sich Simon Rattle und die seinen erlauben, mit jedem noch so ausgefallenen Programm anzureisen. Zum Beispiel mit Magnus Lindbergs „Aura“ von 1994.

Groß waren die Bedenken im Orchester, ob man den Japanern so ein zeitgenössisches Werk zumuten könne, ausgerechnet in der Suntory Hall, wo im Foyer in Granit gehauene Karajan-Worte hängen. Rattle setzte sich durch – und erschien vor der Aufführung auf der Bühne, um in seiner entwaffnend charmanten Art für das Stück zu werben.

Absolute Stille herrscht im Saal während der 40-minütigen Aufführung – und doch ist beim Applaus schwer auszumachen, wo die Höflichkeit aufhört und aufkeimende Faszination beginnt. Leicht fällt es den Tokiotern bestimmt nicht, sich auf diese organisch pulsierende Musik einzulassen, die beim ersten Hören amorph wirkt, ohne wiedererkennbare Melodien. In einer Megacity wie Tokio treibt vor allem die Sehnsucht nach Harmonie die Menschen zur Klassik. Draußen vor der Tür, im urbanen Chaos, wo die Stadt zügellos wuchert, verlangt Tokio seinen Bewohnern extreme Disziplin ab. Anders als New York, wo die Verletzlichkeit des Systems Großstadt dauernd spürbar ist, funktioniert die japanische Hauptstadt reibungslos – weil sich hier jeder zurücknimmt. Die Straßen, die Autos, selbst die U-Bahnen sind blitzblank, nichts liegt auf dem Boden, niemand brüllt in der U-Bahn Belangloses in sein Handy. Diesem alltäglichen Anpassungsdruck begegnen die Einwohner des 12- Millionen-Molochs auch durch den Besuch von Klassik-Konzerten. Man mag es Ersatzbefriedigung nennen – aber wenn man in Tokio auf Kunst trifft, die Selbstgewissheit kennt, die an allgemein gültige ästhetische Regeln glaubt, dann kann das hier eine ungeheuer beruhigende Wirkung entfalten.

„Jetzt haben wir den Chor von so weit her geholt – sollte er da nicht ein wenig näher an der Rampe stehen dürfen?“ Simon Rattles Lockenkopf taucht aus dem Orchestergraben der Bunka Kaikan Hall auf, sein Blick sucht im Dunkel des Zuschauerraums nach Nikolaus Lehnhoff. Kurze Verhandlung zwischen dem Dirigenten und seinem Regisseur, dann dürfen die 64 Sängerinnen und Sänger aus Berlin auf der Riesenbühne ein paar Meter nach vorne rücken. Weil das Finale des „Fidelio“ so einfach besser klingt.

Ausgerechnet im fernen Tokio kann man in diesen Tagen den Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen zwei Berliner Institutionen beobachten. Hans Rehberg, den Manager des Rundfunkchores, hatte es stets gewurmt, dass Claudio Abbado Chöre aus Skandinavien oder Spanien bevorzugte – wo doch ein Profiensemble in der eigenen Stadt sitzt. Im Frühjahr 2003 kam dann endlich Rehbergs Stunde: In Salzburg erlebte Abbados Nachfolger Simon Rattle bei seiner „Fidelio“-Produktion ein Fiasko mit dem Wiener Arnold-Schönberg-Chor. Noch während der österlichen Aufführungsserie klingelte in Berlin das Telefon: Ob der Rundfunkchor Zeit habe, im November 2004 in Tokio bei „Fidelio“ mitzuwirken. Eine Riesenchance. Und für die auf Konzerte spezialisierten Sänger eine echte Herausforderung. Zum Glück weiß ihr Chorleiter Simon Halsey ganz genau, wie Rattle am liebsten probt. Die beiden Briten kennen sich seit einem Vierteljahrhundert: 1980 kamen sie als blutjunge Hoffnungsträger fast zeitgleich nach Birmingham. Gemeinsam sind sie damals an ihren Aufgaben gewachsen, Halsey hat hart mit dem lokalen Laienchor gearbeitet, um mit der rasanten Entwicklung des Birmingham Symphony Orchestra unter Rattle mithalten zu können.

Genauso soll es jetzt in Berlin wieder sein. Halsey will mit seinen Sängern ganz an die Spitze – indem er eine Arbeitsatmosphäre schafft wie bei den Philharmonikern. In der Klassik, wo ein kleiner Kreis von Meisterwerken wieder und wieder neu befragt wird, geht es letzten Endes um Verfeinerung, um Sensibilisierung, um die Fähigkeit, nicht nur alle Nuancen der eigenen Stimme ausloten zu können, sondern gleichzeitig auf die anderen zu hören. Glanzvoll sein kann jeder, der technisch einigermaßen auf der Höhe ist – in der raffinierten Ausgestaltung des scheinbar Unspektakulären, im pianissimo zeigt sich echte Meisterschaft. An diesem umjubelten Beethoven-Abend steigt die Erinnerung an einen alten „Zitty“- Cartoon auf, der eine Gruppe lächelnder Japaner zeigt, die zufrieden feststellen: „Bellin ist eine Leise welt!“

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