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Revolution auf Spanisch. Ein junges, Fahrrad fahrendes Pärchen, auf der Puerta del Sol in Madrid.

© AFP

Jugendproteste in Spanien: Yes, we camp

Digitale Empörung, analoger Widerstand: Wie sich die Jugend in Spanien gegen das politische System formiert.

Seit einer Woche bin ich ein zwanghafter Twitterer. Ich tippe Nachrichten im Laufen, aktualisiere minütlich meinen Blog und meinen Facebook-Eintrag. Ich empfehle andere Blogs, Seiten, Videos, Fotos. Ich denke kollektiv, Modus 2.0. Schuld ist die Spanische Revolution oder wie sie im Netz heißt: „#spanishrevolution“. Wie erklärt man sie einem Deutschen? Ich stelle die Frage auf Twitter. Ein Miguel Martínez antwortet: „Spanien hat sich Merkels Diktat unterworfen und füttert weiter die Deutsche Bank.“ So kann man es auch sehen. Die Deutsche Bank bot auf dem überhitzten spanischen Immobilienmarkt, dessen Zusammenbruch die Krise auslöste, die wildesten Kredite an: 120 Prozent des Immobilienwerts, 45 Jahre Laufzeit, für Kunden ohne Arbeitsvertrag. Deutsche Fondsmanager griffen dann kräftig beim Aufkauf der Hypothekenpakete zu. Klar, dass Merkel uns nun auffordert, härter zu arbeiten und drastische Einschnitte hinzunehmen; die Banken wollen ihr Geld ja wiederhaben.

Doch warum schreiben so viele internationale Medien, dass die Spanier gegen ihre Regierung protestieren? Warum behaupten sie, dass die hohe Arbeitslosigkeit die Proteste ausgelöst habe? Weshalb wird Madrid mit Kairo verglichen? Weil in beiden Städten Menschen zelten? Erhellender ist da schon das Twitter-Konto @wikileaks. Dort wird etwa auf den Text „Spaniens isländische Revolte“ hingewiesen. Er beschäftigt sich mit den Parallelen zu Island, dessen Bürger sich weigerten, für die Schulden ihrer Banken zu zahlen.

Natürlich empören sich die Spanier über eine Welt, die weiter von Spekulanten dominiert wird. Ende 2008 rettete Spaniens Regierung die Banken mit Milliarden von Euros, die sie nicht hatte. Dann trieben der Internationale Währungsfond, die Rating-Agenturen und die von Angela Merkel gestreuten Gerüchte, dass Spanien unter den Rettungsschirm der EU müsste, die Schulden noch einmal in die Höhe. Doch während die Zahl der Arbeitslosen ein historisches Hoch erreichte, strichen die 35 größten an der Madrider Börse notierten Unternehmen rund 50 Milliarden Euro ein, 25 Prozent mehr als 2009. Für den lautesten Aufschrei sorgte der Mobilfunkkonzern Telefónica. Er kündigte die Entlassung von 6000 Mitarbeitern an – und zahlte seinen Managern Gehälter in Höhe von 450 Millionen Euro und 6,9 Milliarden Euro an Boni. Der ökonomische Widerspruch verschärfte sich.

92 Prozent der jungen Spanier sind Internauten

Zur Erklärung der Spanishrevolution muss man jedoch auf einen anderen, wichtigeren Widerspruch hinweisen: den digitalen. 92 Prozent der jungen Spanier sind Internauten (zwölf Prozent mehr als im Rest Europas). Aber nur zehn Prozent der spanischen Abgeordneten benutzen Twitter. Auch so lässt sich erklären, warum Spaniens Kulturministerin eins der rückschrittlichsten Internet-Gesetze des Planeten erlassen konnte. Der Staat darf nun eine Webseite ohne juristische Prüfung innerhalb von vier Tagen schließen. Das Gesetz löste in Spanien eine kleine Cyberrevolution aus. Im Januar 2010 wurde in Madrid „Red Sostenible“ („Nachhaltiges Netz“) als digitale Widerstands-Plattform gegründet. Kurz darauf entstand die Plattform „Nolesvotes“ („Wähle sie nicht“). Die Parteien, die dem Internet-Gesetz zugestimmt hatten, sollten an den Urnen bestraft werden. Bald schloss sich die Gruppe Anonymous an, ebenso der Filmregisseur Alex de la Iglesia, der als Präsident der spanischen Filmakademie zurücktrat. „Nolesvotes“ wurde zu einem Kristallisationspunkt der verschiedenen Bewegungen im Netz. Es braute sich etwas zusammen. Die Arbeitslosigkeit stieg weiter, die Konzerne zahlten weiter astronomische Managergehälter. Dann präsentierten die Sozialisten und die Volkspartei ihre Kandidaten für die Regionalwahlen. Darunter: zahlreiche Politiker, die unter dem Verdacht standen, sich während des Immobilienbooms illegal bereichert zu haben.

Sogar der konservative Francisco Camps, Präsident der Region Valencia, lächelte unverfroren in die Kameras. Die „New York Times“ bezeichnete ihn kürzlich als spanischen Berlusconi. „Nolesvotes“ reagierte und veröffentlichte eine Spanien-Karte mit allen Korruptionsskandalen des Landes, bis ins letzte Dorf. Die Lunte war gelegt.

Wo kreuzten sich der ökonomische und der digitale Widerspruch? Wie wurde aus der digitalen Empörung analoger Widerstand? Beispielhaft hierfür steht das Kollektiv „franconohamuerto.com“. Dessen Ziel: im Internet Geld auftreiben, um Werbung für den Richter Baltasar Garzón zu finanzieren, der vom Obersten Gerichtshof daran gehindert wurde, weiterhin die Verbrechen des Franquismus zu untersuchen. Dann schickte die Gruppe Estado del Malestar (Zustand des Unbehagens) ihre Mitglieder mit Megafonen auf die Straßen. Sie stiegen auf Bierkästen und sprachen wider die politische und ökonomische Klasse. Im April demonstrierte „Juventud Sin Futuro“ („Jugend ohne Zukunft“), und die Aktivisten-Plattform „actuable.es“ lancierte auf avaaz.org eine Kampagne gegen korrupte Kandidaten. Gleichzeitig veröffentlichten einige namhafte Intellektuelle das Manifest „Reagiere – Zehn Gründe warum du etwas im Angesicht der Krise tun sollst“. Das Vorwort schrieb Stéphane Hessel, Autor von „Empört euch“. Die Spanische Revolution klopfte laut an die Tür. Aber niemand schien sie hören zu wollen.

Bis die Plattform „Democracia Real Ya“ („Wirkliche Demokratie Jetzt“) für den 15. Mai Demonstrationen in mehr als 50 Städten anmeldete. Parole: „Wir sind keine Marionetten“. Der Erfolg war überwältigend. Mehr als zehntausend Personen nahmen die Puerta del Sol im Zentrum Madrids ein, und am 16. Mai waren unzählige Plätze in ganz Spanien besetzt. Die Spanishrevolution, wie sie nun hieß, brachte Twitter zum Glühen und befeuerte die Kreativität. Nur einige der Slogans: „Yes we camp“. „Das ist keine Krise. Das ist ein Überfall“. „Ihr lasst uns nicht träumen, wir lassen euch nicht schlafen“. Eine Karikatur des legendären El Roto in der Zeitung „El País“ fasste es zusammen: „Die Jungen gingen auf die Straßen und die Parteien sahen alt aus“.

Dann wurde gewählt. Die Resultate offenbarten einen Widerspruch, der gefährlicher ist als der ökonomische und der digitale. Es ist der politische Widerspruch. Die internationale Presse interpretierte den Ausgang der Wahlen so: Sozialisten gehen unter. Die nationale Presse schrieb: Sieg der Rechten.

Stärkste Partei wurde jedoch mit 33 Prozent die der Nichtwähler. In Madrid stimmte nicht einmal einer von drei Wählen für die Volkspartei, die nun die Stadt leiten wird. In Barcelona betrug die Wahlenthaltung sogar 47 Prozent, so dass Convergéncia i Unió (CiU) mit nur 14 Prozent der möglichen Stimmen regieren wird. Ein interessantes Detail: Die Wähler, die einen leeren oder einen ungültigen Wahlschein abgaben, sind die viertstärkste politische Kraft Spaniens.

Zum politischen, digitalen und ökonomischen Widerspruch gesellte sich der demokratische. Auf Spaniens Plätzen wird weiterhin gezeltet. Junge. Erwachsene. Linke. Der eine oder andere konservative Wähler. Doch die Parteien erwähnen nicht einmal die Bewegung „15M“, die sich dank des Internets schnell internationalisiert hat. Während die Bewegung ein Referendum über die Rettung der Banken mit Steuergeldern fordert, behaupten die Politiker: „Das System funktioniert.“ Die Hellsichtigen verstehen die Spanishrevolution als Avantgarde auf dem Weg zum politischen System 2.0. Es wird partizipativer und demokratischer sein als das bisherige. Zurzeit wird im Netz die Wikipartei geboren. Gleichzeitig aber veranstaltet die spanische Volkspartei Pressekonferenzen ohne das Recht auf Nachfragen. Die Politik panzert sich. Gegen das, was draußen langsam wächst und gedeiht.

Der Autor lebt als Publizist in Spanien und Brasilien. – Aus dem Spanischen übersetzt von Philipp Lichterbeck.

Bernardo Gutiérrez

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