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Kriegstrauma. Szene aus „Borderlines“ von Panaibra Gabriel Canda. Foto: Michael Bause

© Michael Bause

Festival "No Limits": Zähne und Ziegelsteine

Das Festival „No Limits“ ist weit mehr als Theater von behinderten (und nichtbehinderten) Künstlern. Es ist eine Plattform für die Frage, ob die Kunst Behinderter im Mainstream angekommen ist. Bequeme Distanznahme ausgeschlossen.

Fangen wir mit dem Ende an, dem Tod. Die Frau wird in fünf Wochen sterben, wenn niemand sie bewegt. Oder in drei Tagen, falls niemand ihr zu trinken gibt. Oder in fünf Stunden, falls die Batterie ihres Zwerchfell-Stimulators ausfallen sollte. Andererseits – warum Gedanken daran verschwenden? Maria-Cristina Hallwachs hat schon ganz anderes überlebt. Einen Genickbruch. Eine Ethikkommission. Das Mitleid. Ungezählte düstere Prognosen. Jetzt sitzt die 39-Jährige auf der Bühne in ihrem Rollstuhl, den sie mit dem Mund steuert und sagt: „Ich bin anfällig“. Und im gleichen Atemzug: „Ich liebe das Leben“. Hallwachs ist die Protagonistin des Stücks „Qualitätskontrolle“ von Rimini-Protokoll. Sie ist von der Schulter abwärts gelähmt, seit sie vor 20 Jahren auf Kreta kopfüber in den Pool sprang. Auf der Nichtschwimmerseite. Hallwachs erzählt, wie ihr Alltag aussieht. Betreuung rund um die Uhr, im Drei-Schichten-System. Schleim absaugen, wenn sie einen Hustenreiz verspürt. Schlaf mit dem lärmenden Beatmungsgerät im Zimmer nebenan. Sie stellt selbst die Frage: „Hätte ich mir ein Leben in solcher Abhängigkeit vor dem Unfall vorstellen können?“ Nein. Natürlich nicht.

„Qualitätskontrolle“ war im HAU im Rahmen des internationalen Theaterfestivals „No Limits“ zu sehen. Es versammelt in seiner sechsten Ausgabe wiederum behinderte und nichtbehinderte Künstler aus aller Welt in Berlin. Zeigt Arbeiten von Werkstätten und Gruppen aus Deutschland, den Niederlanden, Russland, Serbien, Mosambik und Kanada. Und kontert nebenbei die verengende Zuschreibung „Behindertentheater“ lässig aus. Die meisten Stücke – das hat der „No Limits“-Auftakt schon bewiesen – könnten ohne weiteres auch im regulären Programm laufen. Ohne den Schutzschirm eines Festivals.

Geschichten von Gewalt und ihrer Überwindung als Utopie

„Borderlines“ ist so ein Beispiel. Die Arbeit des renommierten mosambikanischen Choreografen Panaibra Gabriel Canda thematisiert Traumata und Kriegsversehrungen, die sich in den Körper eingeschrieben, ihn teilweise entstellt haben. „Die Performer sind Teil einer kollektiven Geschichte, wie ich selbst auch“, sagt Canda. Es ist eine Geschichte der Gewalt, deren Überwindung als Utopie aufscheint. Ein Mann, der abseits der Bühne Krücken benötigt, und drei Frauen, von denen einer die Beine amputiert wurden, überführen ihre Schmerzerfahrungen in beklemmend kraftvolle Szenen. Beißen sich die Zähne an Ziegelsteinen aus, vereinen sich zu Momenten brutaler Unterwerfung – und bauen schließlich eine menschliche Brücke. Vorerst nur bis zur ausweglosen Wand.

Auf der anderen Seite des Gefühlsspektrums: das Stück „Im Moulin Rouge“ vom niederländischen Theater Maatwerk. Die Künstler verlegen Molières „Der Geizige“ ins plüschige Puffambiente eines Rotterdamer Nachtclubs. Und ziehen zu Live-Jazz-Begleitung eine Gangster-Extravaganza auf, die irrsinnig Spaß macht und dabei keine Debatten über Performer-Autonomie und herabwürdigenden Blick aufkommen lässt. Wie sie zuletzt mal wieder geführt wurden, als Jerôme Bel mit seinem „Disabled Theater“ beim Theatertreffen eingeladen war. In dieser roten Mühle toben Schauspielerinnen und Schauspieler mit Down-Syndrom als Freudenmädchen, Freier und Schlangenleder-Luden durch eine wilde Molière-Sause, in der sie zweifelsfrei die selbstbestimmten Freakstars sind.

Ist die Kunst Behinderter im Mainstream angekommen? Darüber lässt sich streiten. „No Limits“ bietet dafür die Plattform. Bequeme Distanznahme ausgeschlossen, dafür sind die verhandelten Themen zu universell. In „Qualitätskontrolle“ etwa geht es um lange nachhallende Fragen. Was ist ein erfülltes, was ein produktives Dasein? Was passiert, wenn sich eine Biografie nicht mehr in den gängigen Erfolgsschemata erzählen lässt? Hallwachs gibt darauf eine Vielzahl von Antworten. Ganz am Ende sagt sie: „Ich lächele. Oft.“

bis 17. November, verschiedene Spielstätten, www.no-limits-festival.de

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